Nürtinger Zeitung

Nürtinger Abgeordnete zur Thüringen-Wahl: Schaden für Demokratie

Nürtinger Abgeordnete zur Thüringen-Wahl: Schaden für Demokratie

07.02.2020 05:30, VON ANNELIESE LIEB — Bundestagsabgeordnete von CDU, Bündnis 90/Die Grünen und SPD aus den Wahlkreisen Esslingen und Nürtingen sind entsetzt

Das Entsetzen geht durch die ganze Republik. In Thüringen wurde am Mittwoch der Liberale Thomas Kemmerich mit den Stimmen von CDU und AfD zum Ministerpräsidenten gewählt. Einen Tag später legte er sein Amt wieder nieder. Wir haben unsere Bundestagsabgeordneten aus den Wahlkreisen Nürtingen und Esslingen um eine Stellungnahme zu den Vorgängen gebeten.

Der Schock bei politisch interessierten Menschen war groß, als die Bilder aus dem Landtag in Thüringen am Mittwoch über die Bildschirme flimmerten. Mancher wendete sich angewidert ab, als Thüringens AfD-Chef Höcke, ein Rechtspopulist, dem liberalen Ministerpräsidenten gratulierte. Gestern folgte dann Merkels Machtwort: Aus Südafrika meldete sich die Kanzlerin zu Wort. Und am Nachmittag zog die FDP Konsequenzen. Der Cowboystiefel-Fan lege sein Amt nieder. Sein Rücktritt sei „unumgänglich“, sagte Kemmerich.

Insgesamt ein Vorgang, der unserer Demokratie erheblich schadet, so die einhellige Meinung der Bundestagsabgeordneten von Bündnis 90/Grüne, SPD und CDU. Allein Renata Alt (FDP) verteidigt ihren Parteikollegen.

Der CDU-Bundestagsabgeordnete Markus Grübel, seit 2002 direkt gewählter Abgeordneter des Wahlkreises Esslingen, sagte gestern: „In Thüringen gibt es keine Gewinner. Verlierer ist: Unsere Demokratie. Was am Mittwoch passiert ist erweckt den Eindruck, dass in Thüringen Hasardeure Politik machen. Alle Parteien haben daran großen Schaden genommen.“ Jetzt sei es noch wichtiger, dass die Parteien der Mitte geschlossen zusammenstehen und die Neuwahlen Thüringen eine handlungsfähige Regierung bringen, die nicht von der AfD abhängig sei, betont Grübel, der auch Beauftragter der Bundesregierung für weltweite Religionsfreiheit ist.

Matthias Gastel, Bundestagsabgeordneter von Bündnis 90/Die Grünen, ist entsetzt und hält den Liberalen Versagen vor. „Das ist ein in unserer Demokratie unwürdiger Tabubruch mit fatalsten Auswirkungen. Die FDP hat einmal mehr in einer entscheidenden Situation versagt, als es um mehr als Parteitaktik, nämlich um eine besondere Verantwortung für unser Land ging. Die Wahl eines Ministerpräsidenten mit den entscheidenden Stimmen von Rechtsextremisten und Höcke-Nazis stellt einen schweren Sündenfall dar. Aber auch die CDU wusste, dass sie gemeinsam mit der AfD für die Mehrheit sorgen könnte. Alle wussten, was sie taten.“ Das, so Gastel weiter, mache diese Wahl besonders folgenschwer und maximiere den Schaden für unsere Demokratie. „Wir haben als grüne Partei um des Zusammenhalts Willen immer wieder Koalitionen unterstützt, die uns schmerzhafte Zugeständnisse abverlangt haben. Damit haben wir verhindert, dass die AfD in Machtpositionen kommt. Dieselbe Verantwortung hätten CDU und FDP in Thüringen aufbringen müssen. Nun bleiben nur noch Neuwahlen als Ausweg.“

Der politischen Kultur „Bärendienst erwiesen“

Entsetzen auch beim CDU-Bundestagsabgeordneten Michael Hennrich. „Ich kann nur noch mit Sarkasmus darauf reagieren. Man weiß nicht, was man mit dem Manöver bezwecken wollte.“ Hennrich vertritt die Auffassung, dass von Anfang an keine Perspektive zu erkennen gewesen sei. Einzig der politischen Kultur habe man damit einen „Bärendienst“ erwiesen. Die Wahl und der Rücktritt Kemmerichs werden, so Michael Hennrichs Befürchtung, die Spaltung in der Gesellschaft und in den Partien weiter vertiefen. Jetzt stehe man vor einem Scherbenhaufen. „Ich erwarte, dass jetzt politische Vernunft und Klugheit einkehrt und Wahlergebnisse akzeptiert werden.“ Der Kirchheimer hofft, dass unter das ständige Gegeneinander jetzt ein Schlussstrich gezogen wird. „Die Leute erwarten politische Lösungen auf drängende Fragen und kein politisches Klein-Klein.“ Hennrich befürchtet, dass dieses Theater die Spaltung auch innerhalb der CDU vertieft. „Wir dürfen uns nicht wundern, wenn wir irgendwann als Volkspartei einen ähnlichen Weg einschlagen wie die SPD“, so der Bundestagsabgeordnete gegenüber unserer Zeitung.

Renata Alt, bei der letzten Bundestagswahl für die Liberalen ins Parlament eingezogen, sagt: „Ich habe meinen Parteikollegen Thomas Kemmerich als einen Macher und einen lösungsorientierten Menschen kennengelernt. Er wollte, dass Thüringen aus der Mitte heraus regiert wird – in Zusammenarbeit mit CDU, SPD und den Grünen. Deshalb ist er in einer demokratischen und geheimen Wahl gegen die Kandidaten der AfD und der Linken angetreten.“ Thomas Kemmerich habe sich eindeutig und unmissverständlich von Björn Höcke und dessen Partei distanziert und habe betont, dass es keine Zusammenarbeit mit der AfD geben werde. „Als er erkannte, dass er mit Stimmen der AfD zum Ministerpräsidenten gewählt wurde, hätte er die Wahl nicht annehmen dürfen.“ Die FDP Thüringen habe nun den Antrag auf Auflösung des Landtags gestellt. Mit seinem angekündigten Rücktritt habe Thomas Kemmerich den Weg für Neuwahlen geebnet. „Er hat offensichtlich erkannt, dass dieser Schritt in der jetzigen Situation der einzig richtige ist. Ich finde es dennoch bedenklich, dass sich bürgerliche Politiker nun aus Angst, Stimmen von der AfD zu bekommen, nicht mehr zur Wahl stellen könnten. Im Herbst 2019 geschah der eigentliche Tabubruch, als die AfD als zweitstärkste Kraft in den Thüringer Landtag eingezogen ist. Es ist deshalb höchste Zeit, Politik zu machen, die solche Parteien erst gar nicht in die Landesparlamente und den Bundestag einziehen lässt.“

Dr. Nils Schmid (SPD) kritisiert nicht nur das Verhalten der Liberalen, sondern auch der CDU: „Ein Ministerpräsident von Gnaden Rechtsextremer ist ein beispielloser Tabubruch. Zum Grundkonsens unserer Demokratie gehört, dass das Streben nach Macht nicht skrupellos mit allen Mitteln erfolgt. Und es gehört dazu, dass verantwortliches politisches Handeln im Bewusstsein der deutschen Geschichte geschieht. FDP und CDU in Thüringen haben leider beides mit Füßen getreten. Herr Kemmerich hätte die Wahl erst gar nicht annehmen dürfen als klar war, dass er zur Marionette der AfD wird.“ Für den Sozialdemokraten Nils Schmidt steht fest: Nach Kemmerichs Rücktritt müssten CDU und FDP jetzt den Weg für Neuwahlen freimachen. Dies werde erschwert, weil die CDU-Vorsitzende Kramp-Karrenbauer offenbar ein Autoritätsproblem habe.

„Denn der Landesverband Thüringen hat den Steigbügel gehalten – entgegen aller angeblichen Appelle des CDU-Präsidiums, dem auch Herr Mohring angehört. Das Schlimme ist: Die AfD hat jetzt schon gewonnen, weil sie den Spaltpilz ausgestreut hat“, so Schmid.