Neue Wege für die Pflege finden
Neue Wege für die Pflege finden
Hochkarätige Diskussionsrunde in der Stadthalle – Die Nürtinger CDU hatte Experten zum Thema Pflege eingeladen
Das Thema Pflege beschäftigte am Montagabend ein hochkarätig besetztes Podium in der Nürtinger Stadthalle K3N. Im Panoramasaal diskutierten hochrangige Vertreter des baden-württembergischen Gesundheitswesens mit Staatssekretär Andreas Westerfellhaus über die Zukunft der gesundheitlichen und pflegerischen Versorgung.
NÜRTINGEN. „Mit dem Althergebrachten werden wir keinen Erfolg haben“, sagte Staatssekretär Andreas Westerfellhaus. Den Satz des Pflegebevollmächtigten der Bundesregierung hätte wohl jeder Teilnehmer der Diskussionsrunde unterschreiben können – nur über die neuen Wege, die für die Pflege nötig sind, waren sich die Diskutanten im Detail uneinig. Dass die Nürtinger CDU mit ihrem Stadtverbandsvorsitzenden Thaddäus Kunzmann, Demografiebeauftragter der Landesregierung, und ihrem Wahlkreisabgeordneten Michael Hennrich, im Gesundheitswesen bestens vernetzt ist, bewies das hochkarätig besetzte Podium. Neben dem Staatssekretär waren der Vorsitzende des Deutschen Apothekerverbands Fritz Becker, der baden-württembergische AOK-Chef Dr. Christopher Hermann, der Geschäftsführer der Medius-Kliniken Thomas Kräh, der Vorsitzende der Kassenärztlichen Vereinigung im Land Dr. Norbert Metke und der Vorsitzende des VdK Baden-Württemberg Roland Sing auf dem Podium im nicht ganz voll besetzten Panoramasaal.
Sing schilderte die Pflegesituation zunächst aus Patientensicht. Er appellierte dafür, dass die soziale Ausgrenzung gestoppt werden müsse. So sei es wichtig, dass die paritätische Finanzierung der Krankenversicherung wie im Koalitionsvertrag vereinbart wieder hergestellt werde.
Bei den Pflegekosten kritisierte er, dass darin auch die Investitionsumlage und die Ausbildungsumlage enthalten seien – zusammen mache das mehr als 500 Euro pro Pflegeplatz aus. Geld, das eigentlich die Solidargemeinschaft übernehmen sollte. „Pflege kann zur Not werden“, so Sing.
Für die „Gegenseite“ sprach Westerfellhaus. Er ist seit 2018 Pflegebevollmächtigter im Gesundheitsministerium und war zuvor acht Jahre Vorsitzender des Deutschen Pflegerates. Der gelernte Krankenpfleger konnte aus zahlreichen Gesprächen mit Pflegenden berichten – das Fazit sei immer das gleiche: „zu wenig Kollegen, zu wenig Zeit, zu wenig Anerkennung“. Man müsse also die Arbeitsbedingungen in der Pflege verbessern, zum Beispiel durch verbesserte Arbeitszeiten und verbesserte Vernetzung innerhalb der verschiedenen Sektoren der Pflege.
Für mehr Vernetzung plädierte auch KV-Chef Metke. Gleichzeitig müsse aber auch die Ärzteversorgung verbessert werden. Bei Hausärzten herrsche selbst in Nürtingen Mangel. „In Nürtingen fehlen acht Hausärzte“, so Metke. Außerdem gebe es zu viele ungesteuerte Facharztbesuche. Die lange Wartezeit auf einen Facharzttermin liege nicht an zu wenigen Fachärzten, sondern daran, „dass da zu viele Patienten sind, die dort gar nicht hingehören“. Sein Vorschlag ist der, den die AOK über ihr Hausärzteprogramm schon seit einem Jahrzehnt anbietet: mehr Steuerung über den Hausarzt. Dass diese Steuerung Erfolg hat, konnte AOK-Vorstand Hermann mit Zahlen belegen: Durch die Hausarztverträge habe es im vergangenen Jahr im Land 1,2 Millionen „unkoordinierte Facharztbesuche weniger“ gegeben. Die durchschnittliche Wartezeit auf einen Facharzttermin betrage in dem Programm zwei Wochen.
Fritz Becker beleuchtete die Rolle der Apotheken in der Zukunft der Pflege – so könnte die Apotheke Beratung anbieten oder für Pflegebedürftige die Medikationspläne erstellen.
Thomas Kräh machte sich für eine Neueinteilung der Personalschlüssel stark – man brauche das Personal dort, wo viel Leistung anfällt, so der Chef der Kreiskliniken.
Westerfellhaus forderte von den Pflegekräften, sich besser zu organisieren. „Wir haben in den Jahren 2007 bis 2012 55 000 Pflegekräfte abgebaut“, so der Staatssekretär. Weil man Kosten auf dem Rücken des Personals sparen wollte. Er forderte die Einrichtung einer Bundespflegekammer, um die Lobby der Pflegenden zu stärken. Außerdem müsse sich der Beruf akademisieren, um anderen medizinischen Berufszweigen auf Augenhöhe zu begegnen. Dem stimmte auch der AOK-Chef in der Sache zu: „Die Pflege wird sich nur so von der Arztzentrierung emanzipieren“.
Mehr Hilfe für pflegende Angehörige
Metke sah das anders: er plädierte dafür, dass nach wie vor der Arzt die zentrale Anlaufstelle für Themen wie Wundmanagement sein müsse – und diese Aufgaben dann delegieren könne.
Die häusliche Pflege wurde ebenfalls thematisiert. Westerfellhaus bezeichnete den Einsatz von pflegenden Angehörigen als den „größten ambulanten Pflegedienst Deutschlands“. Auch hier sieht der Pflegebevollmächtigte viel Nachholbedarf in der Unterstützung von pflegenden Angehörigen. Er könne sich zum Beispiel eine Bezahlung nach dem Modell des Elterngelds vorstellen, wenn Angehörige für die Pflege im Beruf aussetzen.
Wenn Pflegesituationen plötzlich auftreten, beispielsweise nach Operationen oder Erkrankungen, seien Angehörige oft völlig überlastet. Hier schlägt Westerfellhaus vor, die Angehörigen engmaschig zu begleiten, mit Beratung und Hausbesuchen.
Das Thema Digitalisierung beschäftigte die Diskutanten ebenfalls. Hier sah vor allem der VdK-Vorsitzende Sing nach dem Scheitern der elektronischen Gesundheitskarte die Gefahr eines Flickenteppichs. Eine Patientenakte müsse klar strukturiert sein – damit sie Ärzte, Krankenhäuser, Apotheken und Patienten jederzeit einsehen können.
Kosten waren eine Frage und die Milliardenrücklagen der gesetzlichen Krankenversicherungen. Hermann betonte, dass eine Krankenkasse diese Rücklagen brauche. „Allerdings sind wir eine Krankenkasse und keine Sparkasse“, betonte der AOK-Landeschef. Für pflegende Angehörige werde daher eine Verkürzung der Wartezeiten für eine Reha-Maßnahme von vier auf zwei Jahre geprüft. „Ein Angehöriger pflegt im Schnitt 4,4 Jahre“, so Hermann – da mache eine Pause für die Angehörigen am Ende der Pflegezeit wenig Sinn.
Die große Herausforderung für die nächsten Jahrzehnte sahen alle Beteiligten in der älter werdenden Babyboomer-Generation der 1960er-Jahre. Diese geburtenstarken Jahrgänge rollten auf das Pflegesystem zu.
Man müsse in Zukunft die Kosten des Systems genau im Auge behalten und schauen, was die Solidargemeinschaft übernehmen kann – sonst steuere man auf eine echte Zwei-Klassen-Medizin zu. „Wollen wir mehr ausgeben oder können wir es effizienter ausgeben?“, fragte auch Hermann. Neue individualisierte Therapien zum Beispiel bei Krebs kosteten mehrere Hunderttausend Euro pro Jahr. Ebenso die klassischen Zivilisationskrankheiten wie Kreislauferkrankungen oder Diabetes. Hier müsse stärker auf Prävention gesetzt werden.
Roland Sing appellierte an die Politik, beispielsweise die 30 Milliarden Euro der privaten Pflegeversicherung in die gesetzliche einfließen zu lassen und sich von den einkommensabhängigen Beiträgen zur Versicherung zu verabschieden. Sonst drohe eine Spaltung der Gesellschaft. Er forderte die Politik auf, sich rasch um Lösungen für die Pflege von morgen zu kümmern. Sonst drohe dieses komplexe Thema von Populisten mit vermeintlich einfachen Antworten vereinnahmt zu werden. „Diese Gesellschaft muss wieder mehr zusammenwachsen und nicht weniger“.