Nürtinger Zeitung

Behandlung per Mausklick

Behandlung per Mausklick

19.05.2018, VON MATTHÄUS KLEMKE —

Ärzte sollen Patienten demnächst auch online behandeln dürfen – In Baden-Württemberg läuft bereits ein Pilotprojekt

Ärzte dürfen ihre Patienten künftig auch über Telefon, Video-Chat, E-Mail oder SMS behandeln. Das soll die Praxen entlasten. In Sachen Telemedizin nimmt Baden-Württemberg die Vorreiterrolle in Deutschland ein. Doch wie läuft eigentlich eine solche Tele-Sprechstunde ab und was halten Nürtinger Ärzte davon?

Der Hals kratzt und der Husten wird auch immer schlimmer – also erst einmal den PC hochfahren und ins virtuelle Wartezimmer setzen. Wer kleinere Beschwerden hat, soll sich bald online oder am Telefon eine erste medizinische Meinung einholen können, ohne den behandelnden Arzt jemals persönlich getroffen zu haben.

Der Ärztetag in Erfurt hat jetzt das Fernbehandlungsverbot gelockert. Bisher sind in Deutschland Fernbehandlungen nur dann erlaubt, wenn vorher eine persönliche Begegnung zwischen Arzt und Patient stattgefunden hat. Zukünftig soll in Einzelfällen auch „eine ausschließliche Beratung oder Behandlung über Kommunikationsmedien“ erlaubt sein, wie es in dem Beschluss heißt.

Mit der neuen Verordnung sollen zum einen Praxen entlastet werden. Zum anderen sollen Fernbehandlungen vor allem den Menschen zugutekommen, die in ihrer Mobilität eingeschränkt sind oder lange Anfahrtswege zum nächsten Arzt in Kauf nehmen müssen.

Was hier als medizinische Revolution gefeiert wird, ist in anderen Ländern schon lange etabliert. Online-Sprechstunden sind in Schweden und der Schweiz gang und gäbe. Selbst Rezepte werden online verschickt.

Während die Telemedizin noch in die Berufsordnungen der meisten Landesärztekammern übernommen werden muss, ist man in Baden-Württemberg einen Schritt weiter. Als erste Kassenärztliche Vereinigung in Deutschland hat die KVBW ein Telemedizinprojekt unter dem Namen „docdirekt“ gestartet. Seit Mitte April können gesetzlich krankenversicherte Patienten aus den Modellregionen Stuttgart und Tuttlingen medizinischen Rat über PC oder Smartphone holen.

Teleärzte werden speziell geschult

35 niedergelassene Ärzte wurden zu sogenannten Telemedizinern fortgebildet, die von Montag bis Freitag, zwischen 9 und 19 Uhr, Online-Sprechstunden anbieten. „Wir haben auch einen Kommunikationstrainer in die Schulungen eingeladen, um die Teleärzte eigens dafür zu trainieren, mit einem Patienten umzugehen, den sie nicht kennen und nicht vor sich haben“, sagt Kai Sonntag, Pressesprecher der KVBW: „Wir sind zufrieden mit dem Start. Obwohl wir keine Werbung gemacht haben, haben wir 20 bis 30 Anrufe pro Tag, was zeigt, dass das Interesse der Patienten vorhanden ist.“

Einer der speziell geschulten Teleärzte ist Dr. Hermann Ehninger aus Esslingen. „Die Sprechstunde über PC oder Smartphone ist lediglich ein Zusatzangebot. Der Goldstandard beleibt der analoge Arzt.“ Seit Mitte April hat Ehninger eine „Handvoll Patienten“ per Video-Chat oder Telefon in Empfang genommen. „Es sind einfache Sachen und keine Notfälle, die bei der Telesprechstunde geklärt werden“, sagt der Arzt: „Das kann ein Hautausschlag sein, der einem Patienten Sorge bereitet oder die Frage, ob man bei einem Husten gleich Antibiotika nehmen soll. Man kann die Leute mit der Telemedizin vor allem beruhigen und ihnen Sorgen nehmen.“ Aber wie genau läuft so eine Behandlung ab?

Wer Beschwerden hat, kann sich online, telefonisch oder per Smartphone-App bei „docdirekt“ melden. Eine Medizinische Fachangestellte entscheidet dann zunächst, ob derjenige online behandelt werden kann oder doch direkt in eine Praxis muss. „Jemanden mit Bauch- oder Brustschmerzen kann ich am Bildschirm nicht abtasten. Diese Anrufe werden an die Rettungsleitstelle weitergeleitet“, so Ehninger.

Alle anderen Fälle kommen in ein virtuelles Wartezimmer. „Die Teleärzte werfen immer wieder einen Blick in den virtuellen Warteraum und nehmen mit den Patienten Kontakt auf. Die Wartezeit liegt derzeit gegen null“, so der Esslinger. Anschließend gibt der Telearzt eine Empfehlung für die Weiterbehandlung oder schickt den Patienten weiter zu einer Haus- oder Facharztpraxis. „Bisher war das aber noch nicht nötig“, sagt Ehninger. Er ist sich sicher: „Die Telemedizin wird bald Teil der Regelversorgung sein.“

„Docdirect“ ist in der Stadt Stuttgart und dem Landkreis Tuttlingen zunächst auf zwei Jahre ausgelegt. „Wenn das Projekt erfolgreich ist, würden wir es gerne auf weitere Regionen ausweiten, haben aber hierzu noch keinen Zeitplan“, sagt KVBW-Sprecher Sonntag.

Dr. Jochen Herkommer, Facharzt für Innere Medizin in Nürtingen, begrüßt die Digitalisierung in der Medizin: „Die Tele-Medizin kann als Zusatzangebot besonders Notfallpraxen entlasten, die oft überlaufen sind.“ Allerdings komme die Technik schnell an ihre Grenzen: „Viele Patienten brauchen eine Krankschreibung oder ein Rezept. Die müssen dann trotzdem in die Praxis kommen.“

Der Nürtinger Allgemeinmediziner Dr. Rudolf Handschuh sieht in der Telemedizin einen „richtigen Schritt in die Zukunft“, gibt aber auch zu bedenken: „Die Telemedizin hat klare Grenzen.“ Ein Arzt könne über das Telefon Ratschläge geben, aber nicht wirklich behandeln. Auch seien viele Fragen noch ungeklärt: „Wer haftet eigentlich bei einer Fehldiagnose am Telefon? Und wer soll sich noch zum Telemediziner fortbilden, wenn Ärzte sowieso schon alle Hände voll zu tun haben?“

Welche Patienten profitieren wirklich?

Nach Meinung von Dr. Matthias Heinemann, Internist aus Raidwangen, kommt die Telemedizin nur einem bestimmten Patientenkreis zugute und geht an denen vorbei, die wirklich davon profitieren könnten: „Der 90-jährigen Patientin, die auf dem Land lebt und kein Smartphone oder Computer hat, bringt das wenig.“ Heinemann begrüßt die Aufgeschlossenheit der Ärzteschaft, sagt aber, dass der persönliche Kontakt nicht zu ersetzen ist: „Am Telefon kann ich niemandem eine Anleitung geben, wie er sich den Blinddarm entfernen kann.“

Zu den Personen, die von der Telemedizin profitieren könnte, zählen sicherlich auch Politiker, die oft unterwegs sind: „Natürlich könnte ich mir vorstellen, am Telefon oder online medizinischen Rat einzuholen“, sagt der Nürtinger CDU-Bundestagsabgeordnete und Gesundheitspolitiker Michael Hennrich: „Es ist super, dass die Ärzteschaft dem Fortschritt offen gegenübersteht.“ Die Telemedizin könne gerade in strukturschwachen Regionen Abhilfe schaffen.