Nürtinger Zeitung

Vier Kandidaten schaffen es nach Berlin

Vier Kandidaten schaffen es nach Berlin

25.09.2017, VON ANNELIESE LIEB/BARBARA GOSSON/UWE GOTTWALD/ANDREAS WARAUSCH/VOLKER HAUSSMANN/MATTHÄUS KLEMKE —

Direktmandat für CDU-Mann Hennrich – Schmid (SPD), Gastel (Grüne) und Alt (FDP) ziehen nach – Geschockt vom AfD-Ergebnis

Der Wahlkreis Nürtingen ist künftig mit vier Abgeordneten im Deutschen Bundestag vertreten. Michael Hennrich (CDU) hat erneut das Direktmandat geholt. Dr. Nils Schmid folgt als Sozialdemokrat Rainer Arnold nach, Matthias Gastel schafft erneut den Einzug und neu dabei ist Renata Alt (FDP).

NÜRTINGEN. Auf die Ergebnisse aus den einzelnen Kreisgemeinden musste man gestern Abend länger warten als gedacht. Das lag zum einen an der Wahlbeteiligung, zum andern an der Befürchtung vor Hackerangriffen. Nach Informationen des Landratsamts dauerte es mit der Online-Übertragung deshalb länger, weil jedes Ergebnis zum Schutz vor Hackerangriffen erst von der jeweiligen Gemeinde telefonisch verifiziert werden musste. Die Stadt Owen hatte die Nase vorn und lieferte gegen 19.30 Uhr die ersten Zahlen.

Hennrich holt wieder das Direktmandat

„Es hat sich seit zwei Wochen abgezeichnet“, deutete Michael Hennrich noch kurz vor der ersten Hochrechnung an, dass er mit einem Stimmenverlust für die CDU rechne. Dass das Ergebnis dann aber so schlecht ausfallen würde, hatte er so wohl nicht auf der Rechnung. Bei diesen Zahlen war niemandem auf der mit rund 60 CDU-Anhängern gut besuchten Wahlparty in den Wolfschlugener „Hexenbanner-Stuben“ nach Jubeln zumute.

„Das Fernseh-Duell hat zu dem enttäuschenden Zweitstimmen-Ergebnis beigetragen“, ist sich Hennrich sicher. „Das war eine lahme Veranstaltung“, da hätten nur die kleinen Parteien profitiert. Trifft die Bundeskanzlerin eine Mitschuld am starken Abschneiden der AfD? Hennrich: „Wenn die Flüchtlingswelle 2015 nicht gekommen wäre, wäre die Entwicklung nicht so massiv geworden.“

„Das Wahlergebnis ist eine klare Ansage für alle Beteiligten: Die Große Koalition ist abgewählt. Jetzt gibt es nur noch eine Option“, sagte Hennrich. Soll heißen: Nun also Jamaika-Koalition, wie die Kombination aus CDU, FDP und Grünen wegen der Kombination der Parteifarben griffig genannt wird. Die Verhandlungen, ahnt Hennrich, werden „kein Zuckerschlecken“. Kernthemen seien die Einwanderung und das Flüchtlingsthema. Die Verhandlungen werden sich schwierig gestalten, ist er sich sicher. „Die Grünen im Bund sind nicht dieselben wie die Grünen in Baden-Württemberg.“

„Mein eigenes Ergebnis ist mir nicht so wichtig, das spielt keine Rolle“, sagt Hennrich, der seinen Platz im Bundestag wieder sicher hatte. Mit knapp 40 Prozent holte er zum fünften Mal das Direktmandat im Wahlkreis Nürtingen. Vor vier Jahren waren’s 51 Prozent.

„Wir müssen nun schauen, dass wir den Karren wieder flott kriegen“, sieht Hennrich seine Partei nun in der Pflicht. „Wir dürfen aber nicht im Trüben fischen, sondern müssen selbst ein gutes Angebot machen.“ Was das Auftreten der AfD im Bundestag angeht, will er „sehr genau auf die Wortwahl achten“. Manche von AfD-Politikern im Wahlkampf getätigte Äußerung sei im Bundestag ein No-Go.

Nils Schmid konstatiert für die SPD eine „schlimme Schlappe“

Von bleierner Stimmung bei den Sozialdemokraten in Berlin war im Fernsehen nach den ersten Hochrechnungen die Rede. Und diese Einschätzung ließe sich locker auf Nürtingen übertragen. Der Nürtinger Ortsverein hatte ins Hotel Pflum zur kollektiven TV-Wahl-Qual geladen – zur Prognose um 18 Uhr waren gerade mal drei junge Sozis da. Tristesse pur. Nachher trudelten ein paar Ortspartei-Granden ein. Es hätte eben andernorts auch dezentrale Treffen gegeben, erklärte die Ortsvereins-Vorsitzende Bärbel Kehl-Maurer. Von der Deutlichkeit der Niederlage war sie überrascht.

Mit der klaren Berliner SPD-Absage an eine weitere Große Koalition war man im Pflum indes einverstanden. Kehl-Maurer spricht für die Basis: „Das wollen viele nicht.“ Und SPD-Stadt- und Kreisrat Michael Medla sieht im Gang in die Opposition auf das sich abzeichnende Ende der Ära Merkel schielend eine „schöne Chance“, seriös etwas Neues aufzubauen. Kraft tankt er aus dem guten Wahlkampf, den man hier zusammen mit vielen jungen Menschen geführt habe.

Vielleicht fehlte auch Kandidat Nils Schmid als Magnet für die Nürtinger Sozis zu Hause. Der Mann auf dem sicheren Landeslistenplatz sechs weilte nämlich in Berlin, um im SWR-Landesstudio Rede und Antwort zu stehen. Am Telefon sprach Schmid gegenüber unserer Zeitung von einer „schlimmen Schlappe“. Die Opposition sieht er wie seine Nürtinger Genossen aber als Chance. Einen Automatismus gebe es aber nicht, warnte er. Das Land habe von der Arbeit der SPD in der großen Koalition profitiert, die Partei selbst nicht. Dass sich die CDU in der Regierung und die SPD in der Opposition wieder reiben könnten, sei gut fürs politische Klima.

Anders der Höhenflug der AfD. „Dramatisch“, sagt Schmid dazu. Es habe sich etwas verschoben in der Gesellschaft. Das Tempo der wirtschaflich-gesellschaftlichen Veränderungen der letzten 15 Jahre habe viele überfordert. Nun sei man am Ende des Zyklus der Veränderungen. Es werde keine großen Sprünge mehr geben. Aber dafür die Herausforderung, die Überforderten mitzunehmen und die Errungenschaften einer weltoffenen Gesellschaft zu bewahren und deutlich zu machen.

Matthias Gastel konnte diesmal beruhigt schlafen gehen

Vor vier Jahren hatte der Nürtinger Grünen-Abgeordnete Matthias Gastel erst am Morgen nach dem Wahltag Gewissheit, gestern in der Gaststätte Ratsstuben in Leinfelden-Echterdingen konnte er schon recht bald zuversichtlich sein. Nach der ersten bundesweiten Prognose mit leichten Gewinnen für seine Partei folgte bald die Nachricht, die Grünen im Land erzielen um die 14 Prozent. Bei seinem ersten Einzug lag diese Marke noch bei elf Prozent, weshalb für den 46-Jährigen früh klar war, dass es gereicht habe.

Die Anspannung, der er am Wahltag mit Joggen, Bügeln und Aufräumarbeiten begegnete, wich so langsam. „Als Landesgruppe werden wir stärker in der Bundestagsfraktion vertreten sein“, so Gastel, der darin eine Bestätigung in der baden-württembergischen Linie sieht, „möglichst viel umsetzen zu wollen, ohne dabei grüne Prinzipien zu vergessen“.

Der kategorischen Absage der SPD an eine weitere Regierungsbeteiligung traute er nach den ersten Interviews noch nicht, „die werden sich nicht jeden Gesprächs entziehen können“. Gleichwohl werde seine eigene Partei sondieren müssen, ob die sogenannte Jamaica-Koalition aus CDU/CSU, FDP und Grünen möglich werden könnte.

„Mit der FDP haben wir Gemeinsamkeiten, zum Beispiel beim Betrieb der Bahn oder auch in Fragen der Bürgerrechte, allerdings einen erheblichen Disenz in der Energie- und Klimaschutzpolitik“, stellte Gastel gestern Abend fest. In sozialen Fragen sieht er zum Beispiel eine bessere Patientenversorgung und eine ernsthafte Bekämpfung der Langzeitarbeitslosigkeit als dringende Themen.

Über seinen zweiten Einzug in den Bundestag freue er sich, auch über das Abschneiden seiner Partei, der im Vorfeld doch ein schlechteres Ergebnis vorausgesagt wurde, doch in Anbetracht des AfD-Ergebnisses könne er nicht laut jubeln. Heute frühmorgens machte er sich per Bahn auf den Weg nach Berlin, um gemeinsam mit der Fraktion das Wahlergebnis zu analysieren.

Große Freude bei der FDP: Renata Alt ist im Bundestag

Die Wahlparty der FDP fand im Gewächshaus der Gärtnerei Kahle in Kirchheim statt. Bei Leberkäswecken und Bier wurde auf die ersten Prognosen gewartet. Denn mutmaßlich würde es für die FDP im Kreis einen Grund zu Feiern geben: Kandidatin Renata Alt hatte mit dem siebten Platz auf der Landesliste gute Chancen, für den Wahlkreis Nürtingen in den Bundestag einzuziehen.

Während ihr Mann Thomas Alt entspannte Jazz-Standards auf dem E-Piano spielte, stieg die Nervosität der Kandidatin vor der ersten Prognose um 18 Uhr sichtlich. Der Jubel über das zweistellige Ergebnis blieb den Liberalen ein wenig im Halse stecken angesichts des Umstandes, dass nicht sie, sondern die AfD drittstärkste Kraft im nächsten Bundestag sein würde. Wenigstens, so trösteten sich die Parteimitglieder, hatte die AfD bei ihnen kaum Stimmen abgefischt.

Bevor jedoch nicht das Ergebnis aus Baden-Württemberg vorlag, konnte noch keiner sagen, ob es wirklich für Renata Alt gereicht hat. „Mein Tipp waren zehn Prozent plus X“, sagt sie. Das Ergebnis der AfD findet sie schade für Deutschland. „Wir haben die Geschichte noch nicht so verarbeitet, wie wir uns das vorgestellt haben.“ Nun gelte es, dass die anderen Parteien die demokratischen Werte hochhalten.

Groß war der Jubel, als die erste Hochrechnungen aus Baden-Württemberg erschien. Mit über 13 Prozent im Land war es fast sicher, dass Renata Alt den Sprung in den Bundestag geschafft hat. Der Kreisvorsitzende Ulrich Fehrlen gratulierte telefonisch.

„Mir wäre Opposition lieber gewesen“, kommentierte sie, dass die FDP nach ihren vier Jahren Pause vermutlich gleich Teil einer Jamaika-Koalition wird. Renata Alt wagt einen Blick in die Zukunft: Sie würde sich im Bundestag gerne mit internationaler und Europa-Politik befassen. Ein Einwanderungsgesetz hält sie für dringend erforderlich und möchte sich dafür einsetzen.

Dann wandte sie sich an ihre Gäste und dankte allen, die sie im Wahlkampf unterstützt hatten, insbesondere ihrem Wahlkampfmanager Dennis Birnstock. Nun gelte es, die Energie aus diesem Wahlkampf in den nächsten Kommunalwahlkampf mitzunehmen.

Optimismus bei den Linken, Freude bei AfD-Kandidatin

Mit gemischten Gefühlen nahm Heinrich Brinker, Kandidat von Die Linke, den Ausgang der Wahl in der Kulturkneipe Fünfbisneun in Esslingen zur Kenntnis. Realistische Chancen in den Bundestag zu kommen hatte er von vornherein nicht. „Aber wir haben es geschafft, im Wahlkampf Präsenz zu zeigen. Daran können wir in Zukunft anknüpfen“, so Brinker: „Wir haben in einigen Gemeinden bei der Erst- und der Zweitstimme über sechs Prozent erreicht, zum Beispiel in Kirchheim. Das hätte ich vorher nicht erwartet“, so Brinker erfreut. „Das zeigt, dass wir mit unseren Themen zu den Leuten durchdringen. Allerdings gibt es noch Gemeinden, in dem wir nachlegen müssen.“ So auch in Nürtingen. Hier holte Brinker 5,86 Prozent der Stimmen.

Gute Stimmung herrschte im Restaurant Staigers Bären in Plochingen. Hier feierte die AfD den Einzug in den Bundestag. Kandidatin Vera Kosova hatte sich persönlich zwar 15 Prozent gewünscht, „aber wir sind natürlich zufrieden“, so die Politikerin. Ihr persönliches Ergebnis von 11,93 Prozent der Erststimmen im Wahlkreis Nürtingen nahmen sie gelassen auf: „Ich bin zum ersten Mal angetreten und hatte für mich keine bestimmte Marke gesetzt, die ich erreichen wollte. Mir war klar, dass sich das Ergebnis nicht all zu sehr vom Bundesschnitt unterscheiden wird.“