Nürtinger Zeitung

Aus dem Wahlkreis ins Parlament: Zwei Sieger, zwei Verlierer?

Aus dem Wahlkreis ins Parlament: Zwei Sieger, zwei Verlierer?

26.09.2017, VON PHILIP SANDROCK UND ANDREAS WARAUSCH —

Nachklapp: Hennrich (CDU) und Schmid (SPD) lecken die Wunden

Der Tag danach. Berlin. Ländle. Während die Sieger von den kleinen Parteien feiern, lecken die (ehemals) großen Parteien die Wunden. Blicken zurück. Nach vorne. Die Aussichten: Düster bis heller. Die CDU bleibt in der Regierung. Hat dennoch massig Stimmen verloren. Die SPD natürlich auch. Sie muss oder darf jetzt in die Opposition. Sind beide Verlierer? Wir schauen auf die Kandidaten des Wahlkreises, deren Parteien gerade noch die große Koalition bilden.

Michael Hennrich von der Union ist trotz Direktmandat im Wahlkreis 262 Nürtingen um elf Prozent abgestürzt. Obwohl er sich doch sehr engagiere. So verspürt er auch am Tag danach, noch im Wahlkreis weilend, großen persönlichen Frust. Allenfalls beim Blick auf die Ergebnisse der Kollegen in der Region müsse er sich nicht verstecken.

Aber: Auch mit großen Anstrengungen im Wahlkreis könne man nichts gegen den Trend der Partei erreichen. Das Engagement im Wahlkreis spiele überhaupt keine Rolle, sagt Hennrich desillusioniert. Dennoch werde er nun nach der Wahl mit unvermindertem Engagement im Wahlkreis weiterarbeiten, auch wenn das nicht honoriert werde. „Das gehört zu meinem Selbstverständnis dazu.“

Mit geschärftem Blick schaut er auf die einzelnen Ergebnisse im Wahlkreis. Seiner Ansicht nach das beste Ergebnis holte er in Kirchheim. Denn hier, in seiner Heimatstadt, war der Abstand zwischen Erst- und Zweitstimmen am größten. Er betrug über sechseinhalb Prozent. „Das ist der Heimvorteil“, sagt er.

Weniger, circa fünf, waren es in Nürtingen. Das ist der Trend. Im Roßdorfer Gemeinschaftshaus gar hatte AfD-Kandidatin Kosova in zwei Wahlbezirken die Nase vor dem CDU-Mann. Hatte man diesen vermeintlich schwierigen Stadtteil vorher schon ausgeklammert? Das Thema „Wahlkampf an der Haustüre“ habe er sowieso nicht weiter verfolgt. Und das Roßdorf gehöre zu den Bereichen mit „relativ geschlossenen Communitys“. Spätaussiedler, Russlanddeutsche, die massiv zur AfD abwanderten. Wie in Lahr, in Pforzheim. Da komme man schlecht ran.

Ein entsprechend großes Engagement in diese Richtung werde es auch künftig nicht geben. Hennrich: „Ich werde nicht in der trüben Brühe der AfD nach Wählern fischen.“ Nur um einen Teil der Protestwähler werde er sich bemühen. Allerdings werde er in den kommenden vier Jahren den Ton gegenüber der AfD in einem von ihm nicht gewohnten Maße verschärfen. Jamaika, die Koalition von CDU, FDP und Grünen, sei im Übrigen die einzige, wenngleich nicht leichte, Option. Scheiternde Verhandlungen, Neuwahlen wären ein Konjunkturprogramm für die AfD.“

Sozialdemokraten nehmen die Oppositionsrolle an

„Schon noch ziemlich geknickt“, war Dr. Nils Schmid gestern. Der SPD-Kandidat flog einer Flug-Annullierung von Air Berlin geschuldet erst am Nachmittag gen Stuttgart zur Sitzung des Landesvorstands. Auch er habe den Trend im Wahlkreis nicht brechen können. In Nürtingen habe er zwar ein paar mehr Erst- als Zweitstimmen ergattern können. Ok. Aber dass es auf der Alb zum Beispiel schwer werden würde, sei klar gewesen.

Hilfreich sei die Klarheit, dass eine weitere GroKo keinen Sinn mache. Man werde die Oppositionsrolle annehmen und inhaltliche Kontraste zur Union herausarbeiten. Da seien keine Kompromisse mehr nötig, und die CDU könne sich dann auch nicht mehr wie beim Mindestlohn zum Beispiel an die SPD anhängen. Man müsse wieder den politischen Streit zwischen den beiden großen Volksparteien hinbekommen. Dann spiele sich die Auseinandersetzung nicht mehr an den Rändern ab. Ein Rezept also gegen die AfD. Dann gehe es auch wieder um andere Themen wie Soziales oder Europa. Zuvor und im Wahlkampf habe die Union und gerade die Kanzlerin keine Auseinandersetzung wollen. Dafür habe die CDU die Quittung bekommen, so Schmid. Jetzt aber könne die Union der Debatte nicht mehr ausweichen.

Auch an der SPD-Basis gibt es trotz der dramatischen Niederlage schon auch zuversichtliche Töne. Schon gestern sagte die Nürtinger Ortsvereinsvorsitzende Bärbel Kehl-Maurer: „Wir haben unser Selbstbewusstsein nicht verloren.“ Auch Stadt- und Kreisrat Michael Medla ist zuversichtlich für die Zukunft. Viele junge Menschen seien im guten Wahlkampf dabei gewesen. Gerade jetzt für die Oppositionszeit sei die Kampfbereitschaft groß. Und es gebe nun auch Raum dafür. Denn in Zukunft werde es wieder politische Lager geben. Man werde polarisieren können. Eine Aufgabe auch für Martin Schulz. Im Wahlkampf sei das schwer gewesen.

Nils Schmid sieht indes gute Perspektiven für das Zustandekommen einer Jamaika-Koalition. Denn: „Keiner will eine Koalition der großen Verlierer.“ Und seine persönlichen Perspektiven? Gedanken dazu seien noch nicht vertieft worden. Am heutigen Dienstag jettet Schmid, so es die entsprechende Airline denn will, wieder in die Bundeshauptstadt. Zur ersten Fraktionssitzung. Vielleicht habe man ja vorher schon Namen gehört, die für den Fraktionsvorsitz in Frage kämen, vielleicht gibt es ja schon Vorschläge, sinniert der ehemalige Landes- und zukünftige Bundespolitiker. Übrigens geht es auch für Michael Hennrich heute zurück zur Fraktionssitzung nach Berlin.

Zu ihrer Fraktion stieß die frisch gewählte FDP-Bundestagsabgeordnete Renata Alt gestern schon. Sie zog über die Landesliste ins Parlament ein. Kreisweit holte die Liberale 9,86 Prozent der Stimmen. Als echte FDP-Hochburg erwies sich dabei die Gemeinde Altdorf. Hier stimmten 11,72 Prozent der Wähler mit der Erststimme für Alt. Beinahe jeder Fünfte Altdorfer, der zur Wahl ging, 19,76 Prozent, gab seine Zweitstimme den Liberalen. Die wenigsten Erststimmen bekam Alt mit 7,57 Prozent in Bempflingen.

So viele Zweitstimmen gab es prozentual für die Grünen in keiner Wahlkreisgemeinde. Trotzdem stand schon am Sonntagabend rasch fest, dass auch Matthias Gastel sicher im nächsten Bundestag vertreten sein wird. Der Bahnexperte seiner Partei holte vor allem auf den Fildern eine Menge Erststimmen. In Filderstadt votierten 17,32 Prozent der Wähler für Gastel, in Leinfelden-Echterdingen stimmten sogar 18 Prozent der Wähler für ihn. Das schlechteste Wahlergebnis holte Gastel mit 9,32 Prozent in Kohlberg. Dort ließen sich die Wähler auch bei den Zweitstimmen am wenigsten von grüner Politik überzeugen: 11,21 Prozent. Bei den Zweitstimmen landen die Grünen in Bissingen mit 17,25 Prozent sogar vor der SPD, die holte dort nur 12,76 Prozent.