30 Jahre nach Rostock-Lichtenhagen: „Das fühlte sich wie Bürgerkrieg an“

Der Nürtinger CDU-Bundestagsabgeordnete Michael Hennrich lebte 1992 zur Zeit der Ausschreitungen gegen Asylbewerber und Ausländer in Rostock und arbeitete in Lichtenhagen. Im Gespräch mit unserer Zeitung erinnert er sich an die Schreckenstage.

„Ich hatte mein erstes juristisches Staatsexamen an der Universität Bonn gemacht. Ein Professor wechselte von Bonn an die Uni Rostock und ich hatte die Möglichkeit, bei ihm als wissenschaftlicher Mitarbeiter zu arbeiten. Das war toll für mich. Unser Team sollte eine juristische Fakultät an der Universität Rostock etablieren.“

Wie war die Stimmung in der Stadt, als sie nach Rostock kamen?

„Wir kamen als Wessis in eine Stadt, in der die beiden großen Werften praktisch vor der Pleite standen. Auch standen tausend Mitarbeiter der Stadt und der Uni-Verwaltung vor dem Aus. Die Stimmung war sehr gedrückt. Die Leute waren stark verunsichert, wussten nicht, wie ihre Zukunft aussehen würde. Und da kamen dann so Leute aus dem Westen, deren vermeintlich einzige Sorge war, ob sie nach BAT West oder BAT Ost (Anmerkung der Redaktion: Bundes-Angestelltentarifvertrag) bezahlt würden.“

Wo haben Sie gelebt?

„Die juristische Fakultät war in Marienehe, was unmittelbar an Lichtenhagen angrenzte, also direkt in dem Ortsteil, in dem dann die Ausschreitungen stattfanden. Wir waren ungefähr 700 Meter Luftlinie davon entfernt. Gewohnt habe ich in Warnemünde und pendelte täglich mit dem Bus. Da kam ich immer am Ort des späteren Geschehens vorbei.““

Merkte man im Vorfeld der Ereignisse, dass sich da etwas zusammenbraute?

„Ja, absolut. Da hatte sich viel aufgestaut. Die Asylbewerberstelle war in dem sogenannten Sonnenblumen-Haus eingerichtet, ein mehrstöckiger Plattenbau. Die Aufnahmestelle lief aber voll. Das führte dazu, dass vor dem Haus immer mehr Menschen, zumeist aus Rumänien und Bulgarien, wild campten. Die hygienischen Verhältnisse wurden katastrophal. Die Stadt tat nichts, gar nichts, um diese Verhältnisse zu verbessern, stellte nicht einmal mobile Toiletten auf – mit den entsprechenden Konsequenzen. Wie sich die Menschen aus Lichtenhagen überhaupt von der Stadt allein gelassen fühlten. Viele Mitarbeiter an der Uni, die dort wohnten, klagten seit langem darüber, dass die Stadt das Viertel verkommen lasse, ganz unabhängig von den Zuständen an der Asylaufnahmestelle. Die Stadt kümmerte sich nicht und die Menschen fühlten sich allein gelassen. Das war ein Versagen der kommunalen Politik. Lichtenhagen war ja mit seiner Nähe zum Strand in Warnemünde ganz bestimmt nicht die schlechteste Wohnlage der Stadt. Aber wenn ich im Bus dort vorbeifuhr, hörte ich die Gespräche der Fahrgäste. Es war zu spüren, wie viel sich da an Ärger und Frust aufgestaut hatte. Und eigentlich war es klar abzusehen, dass sich das irgendwann – und zwar bald – entlädt.“

Hatte das von Anfang an einen eindeutig rassistischen und fremdenfeindlichen Hintergrund?

„Es war immer ein Gemisch. Die Verunsicherung in der gesamten Stadtgesellschaft, die Unzufriedenheit der direkt Ortsansässigen mit der Abwärtsspirale in ihrem Viertel, dann die Probleme mit der Asylaufnahmestelle. Und natürlich machte sich dann auch der klar fremdenfeindliche Unterton immer mehr bemerkbar. Die Aufwallungen wurden immer stärker. Lichtenhagen war plötzlich Thema Nummer eins in der Stadt. Dass hier ein schwelender Konflikt kurz vor dem Ausbruch stand, hätte jedem bewusst sein müssen. Bis heute ist mir ein Rätsel, wie Stadtverwaltung und Landespolitik die Augen davor verschlossen haben. Es passierte einfach nichts.“

Es gab dann eine massive rechtsradikale Agitation. Über 100 000 Flugblätter wurden verteilt. Merkte man, dass Rechtsextremisten sich das Thema zunutze machen wollten?

„Ja, sicher. Bundesweit gewannen ja damals Kräfte am rechten Rand an Zulauf. Hintergrund waren die Debatten rund um eine mögliche Verschärfung des Asylrechts. Im April des Jahres zogen die „Republikaner“ mit 10,9 Prozent auch in den Landtag in Baden-Württemberg ein. Man merkte in der Stadt, dass rechte Leute auch von außerhalb angereist kamen, um die Stimmung zu schüren.“

Wie haben Sie dann die vier Tage der Gewalt erlebt?

„Ich habe immer noch vor allem eines in Erinnerung: die erschütternde Machtlosigkeit der Polizei. Am ersten Tag kamen die mit einem Kleinbus an und sind wieder abgezogen, weil sie offenkundig nichts bewirken konnten. Unglaublich. Die zweite Erinnerung: Selbst für mich, der ich ja in der behaglichen Ruhe einer Universität arbeiten konnte, war das alles ein sehr bedrohliches Szenario. An der Fakultät standen dann gepanzerte Polizeifahrzeuge und Wasserwerfer. Die Mitarbeiter fühlten sich schon bedroht. Man fragte sich, was passiert, wenn der Mob sich in andere Richtung bewegte. Man verlor das Gefühl für die richtige Einschätzung der Lage. Nachts kreisten Polizeihubschrauber über der Stadt. Die Feuer im Heim, das fühlte sich wie Bürgerkrieg an. So ein Gefühl hatte ich vorher und nachher nie wieder.“

Wie nah sind Sie dem Ort der Gewaltexzesse in den vier Tagen selbst gekommen?

„Die regulären Busse fuhren nicht mehr. Ich bin auf die S-Bahn umgestiegen. Ich hab versucht, einen Bogen um den Ort zu machen. Ich hatte da wirklich Angst. Wohlgemerkt: Wenn ich das schon spürte, wie unglaublich schrecklich muss das für die Betroffenen gewesen sein, die Asylbewerber und die Menschen im benachbarten Wohnheim. Dort lebten ja Vietnamesen. Ich weiß noch, wie die Mitarbeiter an der Uni gar nicht verstehen konnten, warum sich der Hass und die Gewalt auch gegen die Vietnamesen wendete. Die galten eigentlich als gut integriert und waren an vielen Orten der Stadt präsent – auch an der Uni.“

Sie sind CDU-Politiker. Es gibt die Sicht, dass die Partei damals mit Polemik gegen Asylbewerber gezielt politische Punktgewinn einstreichen wollte. Stimmen Sie zu?

„Nein. Die Asylfrage war ein Thema, das ist ja nicht von der Union erfunden worden. Wir brauchten objektiv Lösungen. Der Ausbruch in Rostock war aus meiner Sicht eher ein Ergebnis des Wegschauens und Laufenlassens durch Stadt und Landespolitik. Niemand hatte sich um geordnete Prozesse gekümmert. Und das in einer Region, die sich ohnehin im Stich gelassen fühlte.“

Die Geschehnisse sind 30 Jahre her. Würden Sie sagen, dass wir im Umgang mit Zuwanderern, Fremden und Asylbewerbern eine tolerantere Gesellschaft geworden sind?

„Jedenfalls sind wir politisch ein Staat geworden, der schneller handelt, wenn Probleme anstehen. Diese Form der fehlenden Kontrolle habe ich – anders als manche uns das weismachen wollen – in der Flüchtlingskrise 2015 ganz sicher nicht erlebt. Das war schwierig, aber die Politik hat den Aufnahmeprozess letztlich gut gemanagt. Das war dann wohl auch eine Lehre aus 1992.“

 

Das Interview führte Norbert Wallet – es erschient am 22. August 2022 in den Stuttgarter Nachrichten.