Nürtinger Zeitung

Bundestagwahl: Droht ein aufgeblähtes Parlament? – Meinung der Abgeordneten aus Nürtingen und Esslingen

Bundestagwahl: Droht ein aufgeblähtes Parlament? – Meinung der Abgeordneten aus Nürtingen und Esslingen

03.07.2020 05:30, VON SYLVIA GIERLICHS —

Bisher ist keine Einigung für eine dringend notwendige Wahlrechtsreform in Sicht

Parteien wollen immer so viele Abgeordnete wie möglich in den Bundestag entsenden. Das führt mittlerweile zu einem Parlament mit 709 Abgeordneten. Nach der Wahl 2021 könnten es sogar über 800 werden. Um die Arbeitsfähigkeit des Parlaments zu erhalten, müssen die Parteien nun schnellstmöglich handeln. Die Frage ist: Wie?

Kurz vor der Sommerpause kommt noch einmal Schwung in die Debatte um die Wahlrechtsreform. Die wurde vom Bundesverfassungsgericht schon im Jahr 2012 angemahnt. Doch bisher konnten sich die Parteien nicht auf ein Modell einigen. Nun droht jedoch nach der nächsten Bundestagswahl im Herbst 2021 ein völlig aufgeblähtes Parlament. Der Bundestag wäre eines der größten Parlamente der Welt. Die Befürchtung besteht, dass die parlamentarische Demokratie so ihre Legitimation verlieren könnte. Sollte eine Reform bereits für die kommende Bundestagswahl greifen, ist Eile geboten, denn ein Jahr vor der Wahl darf das Wahlrecht nicht mehr angetastet werden. Was meinen die Abgeordneten der Wahlkreise Nürtingen und Esslingen?

Für Matthias Gastel (Grüne) steht fest: eine Aufblähung des Deutschen Bundestages muss unbedingt vermieden werden. Zwar dürfe eine Demokratie nicht an ihren Kosten bemessen werden. Sie müsse in erster Linie funktionieren. Das jedoch sieht Gastel durch eine womöglich deutlich höhere Anzahl an Abgeordneten beeinträchtigt. „Die demokratischen Oppositionsfraktionen FDP, Linke und Grüne haben einen gemeinsamen Vorschlag vorgelegt, wie wirksam eine Beschränkung der Anzahl der Mandate sichergestellt werden kann. Dieser Vorschlag sieht im Kern eine Reduzierung der Wahlkreise von heute 299 auf 250 vor. Wir haben immer betont, auch für andere Vorschläge offen zu sein. Von den Regierungsfraktionen kam dazu aber nichts. Bedingung für jede Wahlrechtsreform ist unsererseits, dass die Sitzverteilung dem Ergebnis der Bundestagswahl entsprechen muss. Jede Stimme eines jeden Wählers muss gleich viel wert bleiben. Ein Verzicht auf Ausgleichsmandate würde dieses Gleichheitsprinzip verletzen und kann daher keine Lösung darstellen.“ Die Grünen seien seit Jahren gesprächsbereit. Gastel findet es enttäuschend, dass es nach Jahren der Diskussion noch immer keinen Vorschlag gibt, der innerhalb der Koalition abgestimmt ist und durch die Opposition bewertet werden könnte.

Info

Bundestagswahlrecht: Darum wird das Parlament so groß

Überhangmandate: Das deutsche Wahlsystem ist eine Kombination aus Verhältniswahl und Mehrheitswahl. Bei den Wahlen zum Deutschen Bundestag wählt man mit seiner ersten Stimme den Direktkandidaten oder die Direktkandidatin. Wer die Mehrheit aller Erststimmen in einem Wahlkreis erhält, ist auf jeden Fall gewählt (Mehrheitswahl). Mit der zweiten Stimme wählt man eine Partei. Nach einem bestimmten System wird dann errechnet, wie viele Kandidaten eine Partei entsprechend den Zweitstimmen in das Parlament schicken kann (Verhältniswahl). Ein Teil der Abgeordneten im Parlament wird also mit der Erststimme gewählt, der andere Teil wird von den Parteien bestimmt (Landesliste) und zwar entsprechend der Zahl der Zweitstimmen, die diese Partei bekommen hat. Es kann vorkommen, dass für eine Partei mehr Direktkandidaten ins Parlament gewählt werden, als dieser Partei nach den Zweitstimmen eigentlich zustehen. Dies sind die sogenannten Überhangmandate.
Ausgleichsmandat: Wenn eine Partei Überhangmandate bekommt, erhalten die anderen Parteien Ausgleichsmandate dafür. Das sind zusätzliche Mandate, also zusätzliche Abgeordnete. Wenn also eine Partei ein Überhangmandat erhalten hat, müssen alle anderen Parteien dafür auch ein Mandat bekommen. Mit den Ausgleichsmandaten soll sichergestellt werden, dass im Parlament das Machtverhältnis zwischen den Parteien so ist, wie es die Wählerinnen und Wähler entschieden haben.
Bundesverfassungsgericht: Deutschlands oberste Richter hatten 2012 das Bundestagswahlrecht für verfassungswidrig erklärt und deutliche Korrekturen gefordert. Das Gesetz verstoße gegen den Gleichheitsgrundsatz und die vom Grundgesetz garantierte Chancengleichheit der Parteien. Und die Karlsruher Richter bemängelten, dass Überhangmandate in einem Umfang anfallen, „der den Grundcharakter der Bundestagswahl als Verhältniswahl aufhebt“. Quelle: bpb

„Unglaublich, dass die GroKo unseren Gesetzesentwurf zur Wahlrechtsreform im Innenausschuss blockiert hat und damit zum siebten Mal versucht, eine Abstimmung über den Entwurf zu verhindern“, ärgert sich Renata Alt (FDP). Die Bürger hätten kein Verständnis für einen noch größeren Bundestag, der weitere Millionen kosten werde. Der Entwurf, den Sachverständige bereits mehrfach für fair und verfassungsgemäß erklärt hätten, liege den Koalitionsfraktionen seit 2019 vor. Dass die GroKo für sich weiterhin Beratungsbedarf beanspruche, lasse ernsthafte Zweifel aufkommen, dass sie sich intensiv mit dem Thema befasst habe. „Diese Verweigerungshaltung werden wir CDU/CSU und SPD so nicht durchgehen lassen und werden über einen Geschäftsordnungsantrag versuchen, noch diese Woche eine Abstimmung zu erzwingen“, kündigt Alt an. Sie ärgert sich, weil Union und SPD sich darauf geeinigt haben, den gemeinsamen Gesetzentwurf von Grünen, FDP und Linken zur Wahlrechtsreform vorerst nicht zur Abstimmung im Bundestag zuzulassen. Es gebe noch Beratungsbedarf, hieß es aus GroKo-Kreisen.

Doch auch SPD und Union sind sich nicht ganz einig. Denn die SPD kommt mit ganz eigenen Vorstellungen in die Debatte. Die Kritik, dass 800 Abgeordnete gar nicht sinnvoll zu beschäftigen seien und die demokratische Legitimation bei einem so großen Parlament abnehme, möchte Nils Schmid (SPD) beispielsweise nicht teilen. „Demokratische Legitimation und Vertrauen haben kein Preisschild und bei immer komplexer werdenden Sachverhalten gibt es wahrlich keinen Mangel an Arbeit für den Bundestag als gesetzgebendes Organ. Doch auch ich glaube, dass es Grenzen der Arbeits- und Handlungsfähigkeit gibt“, sagt Schmid. Und nennt als Beispiele die Verfügbarkeit von Plätzen im Plenum, von Büroräumen und die Kapazitätsgrenze der Bundestagsverwaltung, die die Arbeit des Bundestags schließlich auch organisieren müsse.

Je größer der Wahlkreis ist, desto schwieriger ist er zu betreuen

Deshalb hält auch Schmid eine Wahlrechtsreform für notwendig. „In meinen Augen erfüllt keiner der bisherigen Vorschläge das Ziel, die bewährten Prinzipien des personalisierten Verhältniswahlrechts zu erhalten und zugleich die Zahl der Mitglieder des Bundestages wirksam zu begrenzen“, sagt er. Eine langfristige Lösung solle nicht übers Knie gebrochen werden. Deswegen müsse für die nächste Wahl eine Übergangslösung geschaffen werden. Die SPD schlägt dafür eine maximale Obergrenze von 690 Abgeordneten vor. Die 299 Wahlkreise und die 299 Zweitstimmenmandate blieben unverändert erhalten. Überhangs- und Ausgleichsmandate würden bis zur Obergrenze verteilt. „So bleibt garantiert, dass sich das Wahlergebnis proportional auch im Parlament widerspiegelt“, sagt Schmid. Eine Reformkommission solle sich dann mit den zur Debatte stehenden Alternativen auseinandersetzen.

Für die CDU hatte diese Woche der Fraktionsvorsitzende Ralf Brinkhaus einen Vorschlag gemacht, der schnell umsetzbar wäre. Danach soll die Zahl der Abgeordneten auf 750 gedeckelt werden. Dazu will Brinkhaus an die Erststimme ran. Je ein Überhangmandat soll nicht durch ein Ausgleichsmandat ausbalanciert werden. Und ein Direktmandat soll gestrichen werden. So könnten Direktmandate in Wahlkreisen mit schwachen Erststimmenergebnissen wegfallen. Auch die Wahlkreise sollen von 299 auf 280 verringert werden. Das bedeutet, dass Wahlkreise einen neuen Zuschnitt erhalten.

Das wiederum könnte Folgen haben. Denn der Wahlkreis Esslingen, derzeit vom CDU-Abgeordneten Markus Grübel vertreten, ist mit 163 000 Wahlberechtigten der zweitkleinste in Baden-Württemberg. Nur der Wahlkreis Schwarzwald-Baar ist noch kleiner. Theoretisch wäre der Wahlkreis Esslingen daher ein Kandidat für eine Neuordnung. Für Markus Grübel sind dies spannende Zeiten: „Ich kämpfe jetzt dafür, dass der Wahlkreis nicht auf die umliegenden Wahlkreise aufgeteilt wird“, sagt er.

Für Michael Hennrich stellt sich allerdings die grundsätzliche Frage, wie bei größer werdenden Wahlkreisen die Verankerung der Abgeordneten funktionieren soll. „Je größer der Wahlkreis ist, desto schwieriger wird es für den Abgeordneten, seinen Wahlkreis zu betreuen“, sagt er. Dem stimmt Markus Grübel zu. „Die sogenannte Berliner Blase würde damit größer. Politiker, die wenig Wahlkreisbezug haben und ihr Hauptaugenmerk auf die Parteiarbeit und Parteitage legen“, sagt er. Und findet, wer Verantwortung für die Menschen im Wahlkreis übernimmt, muss auch Kontakt zu ihnen haben. Markus Grübel würde eigentlich die Einführung des „Echten Zwei-Stimmenwahlrechts“ begrüßen, durch das die Größe des Bundestages auf die vorgesehen Mitgliederzahl von 598 festgelegt wird. Er weiß jedoch, dass dies nicht durchsetzbar ist. Den Brinkhaus-Vorschlag sieht er daher als Kompromiss, der die Sitze aller Fraktionen reduziert.