Nürtinger Zeitung

Bundestagswahl: Für die Wahlrechtsreform tickt die Uhr

Bundestagswahl: Für die Wahlrechtsreform tickt die Uhr

10.07.2020 05:30, VON SYLVIA GIERLICHS —

Abgeordnete aus Nürtingen und Esslingen dringen auf einen Konsens noch in diesem Jahr

Vor den Sommerferien noch eine Wahlrechtsreform auf die Beine zu stellen – nein, das hat in der vergangenen Woche im Bundestag nicht funktioniert. Grund genug, die Abgeordneten noch einmal dazu zu befragen, wie das passieren konnte und wie es nun weitergeht.

In der letzten Sitzungswoche vor der Sommerpause hatten die Abgeordneten in Berlin Großes vor: Eine Lösung für die längst überfällige Wahlrechtsreform sollte gefunden werden. Dieser Versuch ist gescheitert. Nun wird die Zeit knapp, noch vor der kommenden Wahl im Herbst 2021 eine Reform einzutüten. Denn ein Jahr vor der Wahl darf das Wahlrecht nicht mehr verändert werden.

Markus Grübel (CDU) und Renata Alt (FDP) und auch Michael Hennrich (CDU) halten es für dennoch für möglich, im Herbst eine Reform zu präsentieren, mit der alle leben können. „Der Bundeswahlleiter (Red.: Gerhard Thiel, Präsident des Statistischen Bundesamtes) hat ja bereits der Annahme widersprochen, dass es für eine Verringerung der Wahlkreise zu spät sei“, sagt Alt. Zur Not, meint sie, müsse es eine Sondersitzung in der parlamentarischen Sommerpause geben. Ein weiteres Spiel auf Zeit werde dem Ansehen der Demokratie schaden, sagt die FDP-Abgeordnete.

„Alle Parteien und Abgeordnete wissen, dass wir nicht ohne eine Regelung in die Bundestagswahl 2021 gehen können. Selbst im Sommer nächsten Jahres gäbe es noch Korrekturmöglichkeiten, beispielsweise in Form des Kappungsmodells der SPD. Nur die Reform der Wahlkreise muss bis September abgeschlossen sein“, erklärt Michael Hennrich. Matthias Gastel (Grüne) indes ist sich nicht so ganz sicher, dass binnen Wochen eine Reform gelingt, für die es über Jahre hinweg keine Lösung gegeben hat. Nils Schmid (SPD) hält eher eine Übergangslösung für machbar, die die Anzahl der Abgeordneten reduziert, damit die Arbeits- und Handlungsfähigkeit des Bundestages gewährleistet bleibt.

Das Bundesverfassungsgericht hatte bereits 2012 Korrekturen gefordert. „Ist es nicht ziemlich peinlich, auch nach fast acht Jahren keine Reform auf den Weg gebracht zu haben?“, wollten wir wissen. „Das ist es in jedem Fall“, meint Renata Alt. Und plädiert für eine Lösung, die alle Parteien im Bundestag Mandate kostet und sich damit auf alle gleich negativ auswirkt. Der Befürchtung, dass durch größer werdende Wahlkreise die Verankerung der Abgeordneten geschwächt würde, widerspricht sie: „Die zwölf Abgeordneten der FDP betreuen bereits jetzt gemeinsam alle Wahlkreise in Baden-Württemberg. Das sollte also auch für alle anderen Fraktionen möglich sein.“

„Es wäre den Bürgern schwer zu vermitteln, warum wir dieses Problem nicht lösen können“

Markus Grübel (CDU)

Keine Lösung in fast acht Jahren? Matthias Gastel hält dies für oberpeinlich. „Es schadet unserer Demokratie und dem Vertrauen ins Parlament, dass es über Jahre nicht gelungen ist, die notwendige Reform zustande zu bringen“, sagt er. Und während Markus Grübel meint, es brauche manchmal den Zeitdruck, um Kompromisse zu finden, hält Michael Hennrich die Ausgleichsmechanismen für den eigentlichen Grund dafür, dass das Parlament heute so aufgebläht ist. Doch gerade die gingen auf das Urteil des Bundesverfassungsgerichts zurück. Wie das System der Überhang- und Ausgleichsmandate funktioniert, verstehe jedoch heute kaum mehr einer. „Insofern sollte man sich auch Gedanken darüber machen, ob eine Reform nicht so ausgestaltet sein sollte, dass das Wahlrecht auch von den Bürgern verstanden wird“, sagt Hennrich.

Nils Schmid bezeichnet eine Wahlrechtsreform als Operation am Herzen der Demokratie. „Eine nachhaltige Reform sollte für die kommenden Jahrzehnte gemacht und deshalb auch gut durchdacht und geplant sein. Die Schwierigkeit besteht darin, höchst unterschiedliche Interessen und Positionen so in Einklang zu bringen, dass es eine breite Mehrheit gibt – das ist eben nicht so einfach“, sagt er.

Doch haben die Abgeordneten aus dem Wahlkreisen Nürtingen und Esslingen nicht Angst, dass die Bürger ihnen die hartnäckige Weigerung, in dieser Frage einen Konsens zu finden, übel nehmen?

„Es wäre schwer zu vermitteln, warum wir dieses Problem nicht lösen können. Auch weil ein aufgeblähter Bundestag nicht effizienter wird und mehr Geld kostet, das an anderer Stelle sinnvoller ausgegeben werden könnte“, sagt Markus Grübel klipp und klar. „Definitiv“, sagt auch Renata Alt. Man könne den Bürgern vor allem die enormen zusätzlichen Kosten, die durch ein noch größeres Parlament entstehen würden, nicht vermitteln. In diesem Jahr sei der Bundestag mit Ausgaben von mehr als einer Milliarde Euro so teuer wie nie zuvor. „Und gerade jetzt, wo große Summen aufgewendet werden, um Arbeitsplätze zu sichern, können wir Verständnis des Steuerzahlers dafür, dieses aufgeblähte Parlament noch zusätzlich finanzieren zu müssen, nicht erwarten“, sagt sie.

„Der ohnehin lädierte Ruf der Politik wird mit Sicherheit nicht besser, wenn sich die Debatte weiterhin ohne Ergebnis in die Länge zieht. Ich bin bereit, jede Lösung zu akzeptieren und mitzutragen, die eine Mehrheit im Deutschen Bundestag findet – selbst wenn ich unmittelbar davon betroffen wäre“, lautet Michael Hennrichs Antwort.

Den Zorn der Bürger fürchtet hingegen Matthias Gastel nicht. „Wir haben gemeinsam mit der FDP und den Linken einen guten und vorberatenen Gesetzentwurf vorgelegt. Damit hätte die Vergrößerung des Bundestages schon vor Monaten vermieden werden können“, sagt er und bedauert, dass die Bemühungen der drei Oppositionsparteien vergebens waren. Nils Schmid kann hingegen eine hartnäckige Weigerung, einen Konsens zu finden, nicht erkennen. „Ich denke, der Großteil der Bürger sieht, dass Gründlichkeit und Nachhaltigkeit notwendig sind und das nichts mit einer grundsätzlichen Verweigerung zu tun hat“, sagt er.

Wird Demokratie denn besser, wenn man das Parlament künstlich aufbläht? Eine Frage, die Markus Grübel, Renata Alt und Matthias Gastel mit einem klaren Nein beantworten. „Aber zu große Wahlkreise fördern die Bürgernähe und die Bodenhaftung der Abgeordneten auch nicht“, meint Markus Grübel. Und schlägt daher eine moderate Reduzierung der Wahlkreise vor. Für Renata Alt geht es aber nicht nur um eine politische Richtungsfrage, sondern um die Arbeitsfähigkeit des Parlaments. Ein Punkt, in dem sie mit Matthias Gastel und Michael Hennrich übereinstimmt. „Natürlich hat es keinen Nutzen, wenn die Zahl der Abgeordneten weiterwächst; das erleben wir im Parlament in jeder Sitzungswoche jedes Mal aufs Neue. Mehr Anträge, mehr Gesetzesinitiativen, Parlamentsdebatten bis in die frühen Morgenstunden, begrenzte räumliche Kapazitäten und steigende Ausgaben für den Parlamentsbetrieb, die keinen sinnvollen Nutzen stiften“, beschreibt Hennrich seine Erfahrungen mit dem heutigen Parlament, das 706 Abgeordnete umfasst.

Nils Schmid indes stimmt nicht in diesen Chor mit ein: „Niemand hat das Parlament ,künstlich aufgebläht‘. Man sollte die Frage der Wahlrechtsreform auch nicht auf die Zahl der Abgeordneten verkürzen“, findet er. Es gehe darum, die Kräfteverhältnisse der Wahlergebnisse exakt im Plenum abzubilden. Demokratie werde besser, wenn das Parlament effektiv und effizient arbeiten könne und in der Lage sei, sich auch mit komplexen Sachfragen auseinanderzusetzen.