Werden Medikamente knapp?
Werden Medikamente knapp?
04.02.2020 05:30, VON SYLVIA GIERLICHS —
Michael Hennrich (CDU) hat Lösungen gegen Engpässe bei der Lieferung von Medikamenten ausgearbeitet
„Es tut mir leid, aber Ihr Medikament ist derzeit nicht lieferbar“ – das ist ein Satz, den die Wendlinger Apothekerin Julia Wirth derzeit öfter sagen muss. Betroffen sind Allerweltsmedikamente, aber auch solche zur Behandlung von Krebs. Der Nürtinger Abgeordnete Michael Hennrich (CDU) hat in einem Positionspapier Lösungen aufgezeigt.
WENDLINGEN. Eine Patientin steht bei Julia Wirth in der Rathaus-Apotheke und reicht ihr ein Rezept für ein blutdruckregulierendes Medikament. Dass das Produkt nicht lieferbar ist verunsichert die Frau. Wirth wirft einen Blick auf das Rezept und sieht auf den ersten Blick: der Arzt hat das Feld „aut idem“ angekreuzt. Das bedeutet, die Apothekerin darf eigentlich kein anderes Medikament als das verordnete herausgeben. Ein Anruf beim Großhändler bestätigt: Auch dort ist das Medikament nicht verfügbar. Also ruft Wirth den Arzt an, um abzuklären, ob sie in diesem Fall ein Ersatzpräparat herausgeben darf. Der Arzt ist gerade in einem Behandlungstermin und meldet sich fünf Minuten später. Die Patientin wartet derweil in Julia Wirths Apotheke. Schließlich ruft der Arzt zurück und gibt sein Okay für das Ersatzpräparat.
Doch kaum legt Wirth das Medikament auf die Verkaufstheke, wird die Patientin misstrauisch. Denn das Ersatzmedikament hat eine andere Schachtel, die Tablette eine andere Farbe. Geduldig versucht Julia Wirth, der Patientin die Ängste zu nehmen, erklärt ihr ganz genau, was es mit dem sogenannten Generikum auf sich hat. „Wir nehmen uns die Zeit, denn wir wollen unsere Kunden natürlich gut und umfassend beraten“, sagt Wirth.
Verlässt die Kundin die Apotheke, ist die Geschichte für Julia Wirth noch nicht zu Ende. „Wenn das ausgegebene Medikament teurer ist als das verordnete, könnte es sein, dass sich die Krankenkasse weigert, die Kosten zu erstatten“, sagt die Apothekerin. Für sie heißt das, sie muss einen Nachweis führen, dass das ausgegebene Medikament an genau diesem Tag, zu dieser Uhrzeit, nicht lieferbar war.
Dass Medikamente nicht lieferbar sind, hat viele verschiedene Ursachen. Eine ist die Fertigung in Fernost – China und Indien gehören zu den Hauptproduzenten von Wirkstoffen. Der Kostendruck im Gesundheitswesen ist dafür verantwortlich, dass dort und nicht in Europa produziert wird. Steht dort die Produktion still oder es kommt zu Verunreinigungen und damit zu Medikamentenrückrufen, ist ruckzuck ein Lieferengpass da. Passiert ist das letztes Jahr beispielsweise mit dem Wirkstoff Ranitidin, der unter anderem bei Sodbrennen eingesetzt wird.
Rabattverträge als Grund für Lieferengpässe
Einen weiteren Grund macht Julia Wirth in den Rabattverträgen aus, die von den Krankenkassen mit den Herstellern geschlossen werden. Denn, alle zwei Jahre, wenn neue Verträge ausgehandelt werden, gibt es Lieferengpässe. „Die Hersteller fahren dann oft die Produktion zurück, denn sie wissen ja noch nicht, ob sie den Zuschlag erhalten“, sagt Wirth. Bis die Produktion dann wieder auf vollen Touren läuft, dauert es einige Zeit.
Das Dilemma mit den Lieferschwierigkeiten ist in der Politik seit Langem bekannt. Michael Hennrich, CDU-Bundestagsabgeordneter aus dem Wahlkreis Nürtingen, ist als Mitglied des Ausschusses für Gesundheit Experte auf dem Gebiet der Arzneimittelversorgung. „Zu Recht sind Patienten beunruhigt, wenn ihr gewohntes Arzneimittel in der Apotheke nicht erhältlich ist“, sagt Hennrich, der viele Gespräche auch mit Ärzten, Herstellern, Apothekern und Großhändlern führte. Seine erste Forderung: Transparenz über das Liefer- und Marktgeschehen. Ein besonderes Augenmerk gilt hier auch dem Export von Medikamenten, die eigentlich zur Versorgung von Patienten in Deutschland zur Verfügung stehen müssten.
Die Hersteller versichern Hennrich, sie produzierten genug. Allerdings exportiert der Großhandel Medikamente innerhalb Europas. Und auch 3000 Apotheken haben eine Großhandelslizenz. Hennrich hält es deswegen für wichtig, die Meldepflicht bei drohenden oder bestehenden Lieferengpässen von versorgungsrelevanten Arzneimitteln auszuweiten, beispielsweise für die Behandlung von Krebs oder Herzinsuffizienz, Diabetes oder psychischen Erkrankungen.
Eine weitere Forderung Hennrichs: Eine längere Vorratshaltung bei versorgungsrelevanten Arzneimitteln, also eine nationale Arzneimittelreserve aufzubauen. „Wir stellen uns keinen Bunker vor, der mit Medikamenten vollgepackt wird. Dagegen spricht schon die kurze Haltbarkeit mancher Produkte. Aber die Lieferverpflichtung für den Großhandel oder für Hersteller könnte von derzeit zwei Wochen auf vier bis sechs Wochen erhöht werden.“
Als Ultima Ratio soll es eine Exportbeschränkung geben, die so lange gilt, bis der Lieferengpass behoben wurde. „Das ist auch mit EU-Recht vereinbar“, sagt Hennrich. Er sieht aber auch in der Verlagerung der Wirkstoffproduktion zurück nach Europa eine wirkungsvolle Methode, um Lieferengpässe zu minimieren. „Ab Juli übernimmt Deutschland die Ratspräsidentschaft der Europäischen Union. Dann will Gesundheitsminister Jens Spahn dies thematisieren“, sagt Hennrich. Seiner Meinung nach kommt es hier vor allem darauf an, die Vergabekriterien so zu formulieren, dass europäische Standorte berücksichtigt werden können. Dabei spielten Umwelt- und Sozialstandards, aber auch die Klimabilanz eine Rolle.
„Krankenkassen müssen sich auch einmal um die Patienten kümmern“
Michael Hennrich, CDU
Und sind denn nun Rabattverträge mit verantwortlich für Lieferschwierigkeiten? Von Hennrich kommt hier ein Jein. Rabattverträge hätten den Krankenkassen ein enormes Einsparpotenzial ermöglicht. Es gebe aber auch Probleme. So vergebe die AOK die Rabattverträge exklusiv. Hennrich wünscht sich, dass mehr Hersteller den gleichen Wirkstoff produzieren. Damit könnten Apotheken vom Großhandel mehrfach beliefert werden. „Die Krankenkassen müssen sich auch einmal um die Patienten kümmern, ihrem Versorgungsauftrag gerechter werden“, fordert Hennrich und findet, die Kassen nähmen das Problem nicht ernst genug.
Dass die Lieferengpässe in Zusammenhang mit Rabattverträgen stehen, weist die größte gesetzliche Krankenversicherung, die AOK, weit von sich. „Leider gehen Teile der Politik der Pharma-Inszenierung auf den Leim“, sagte Martin Litsch, der dem AOK-Bundesverband vorsteht. Er sieht die wahren Ursachen von Lieferengpässen eher in technischen Problemen im Produktionsablauf und in Rohstoffengpässen oder auch in intransparenten Lieferketten. Verträge für bestimmte Wirkstoffe mehrfach zu vergeben, davon hält die AOK nichts.
Jürgen Baumann ist Chefapotheker der Medius-Kliniken. Sein Arbeitsplatz ist in Ruit. „Ich bin jeden Tag mit dieser angespannten Lage befasst“, sagt er und zieht eine Liste aus einem Stapel Papiere – darauf sind 418 Medikamentenengpässe vermerkt. Ganz aktuell bekam er beispielsweise die Nachricht, dass das Harnwegs-Medikament Cotrimoxazol nicht lieferbar ist. Und zwar bis April. Der Apotheker hat sich mittlerweile in das Thema hineingefuchst, ist immer auf der Suche nach Alternativen und legt inzwischen einen Drei-Monats-Vorrat an. Beispielsweise vom Narkosemittel Propofol. Geht hier die Standardgröße aus, greift Baumann auf die nächsthöhere Größe zurück. Der Anästhesist entnimmt die erforderliche Menge. Und entsorgt den Rest, da aus Hygienegründen die angebrochene Ampulle nicht weiterverwendet werden darf. Das geht ins Geld.
Ständig auf der Hut sein, nachsehen, wo Engpässe drohen, wie man gegensteuern kann, das hat personelle Auswirkungen. Eine halbe Personalstelle, sagt Baumann, sei notwendig, um Alternativmedikamente zu finden und die klinikinterne Bestandsliste auf dem Laufenden zu halten. Die Produktion nach Europa zurückzuholen, wie Michael Hennrich es in seinem Positionspapier fordert, hält Baumann für eine gute Lösung, um dem Problem entgegenzutreten. Produktion in Europa, das bedeutet allerdings auch: höhere Lohn- und Umweltstandards. Und das führt sehr wahrscheinlich zu höheren Preisen für Medikamente. „Man zahlt dann vielleicht auch für die Liefersicherheit“, sagt Jörg Sagasser, medizinischer Direktor der Medius-Kliniken.
Hennrichs Forderungen aus dem Positionspapier sind zu etwa 75 Prozent in ein Gesetz eingeflossen, das den schönen Namen „Faires Kassenwettbewerbsgesetz“ trägt. Mitte Februar wird der Gesetzentwurf zum zweiten Mal im Bundestag erörtert. Im März berät der Bundesrat darüber.