Nürtinger Zeitung

Klare Kante statt Pragmatismus

Klare Kante statt Pragmatismus

20.11.2019 05:30, VON PHILIP SANDROCK —

Der Nürtinger CDU-Bundestagsabgeordnete Michael Hennrich zog eine Halbzeitbilanz der Großen Koalition

Die letzten beiden Jahre seien die verrücktesten gewesen, die er als Politiker erlebt habe, sagt der CDU-Bundestagsabgeordnete Michael Hennrich. Obwohl die Große Koalition seiner Meinung nach gute Arbeit leiste, sei die Außenwirkung der Regierung schlecht. Auch vorzeitige Neuwahlen hält der langjährige CDU-Abgeordnete noch nicht für ausgeschlossen.

UNTERENSINGEN. Seit zwei Jahren ist die Große Koalition aus CDU und SPD auf Bundesebene jetzt im Amt. Deshalb hatte der Nürtinger CDU-Bundestagsabgeordnete Michael Hennrich am Dienstag nach Unterensingen zu einer persönlichen „Halbzeitbilanz“ eingeladen. „Für mich waren die vergangenen beiden Jahre die verrücktesten in der Politik“, sagte Hennrich. Denn die Arbeit der Regierung sei gut und produktiv, sagt Hennrich, der seit 2002 für die CDU im Bundestag sitzt. Aktuellstes Beispiel sei der Kompromiss bei der Grundrente, den Hennrich als „gute Regelung“ bezeichnet. Dort steige man jetzt in die Gesetzgebung ein. Allerdings hätten die Verhandlungen darüber die Koalition bis an die Grenzen der Belastbarkeit gebracht. Insbesondere beim Koalitionspartner SPD. Nach wie vor hält Hennrich es für möglich, dass die Koalition scheitert und es im kommenden Jahr Neuwahlen geben könnte.

Die Außenwirkung der Führungsmannschaft in der Regierung habe noch „erhebliches Potenzial“, wie Hennrich es formuliert. So könne er nicht verstehen, warum Ursula von der Leyen als EU-Kommissionspräsidentin von der SPD auf europäischer Ebene abgelehnt wurde.

Ein anderer Punkt sei der Vorstoß von Verteidigungsministerin Annegret Kramp-Karrenbauer, in Syrien eine Sicherheitszone einzurichten. Ihr Ministerkollege Heiko Maas (SPD) sei von der Ministerin per SMS über den Vorschlag informiert worden – daraufhin sei er mit seinem türkischen Amtskollegen Mevlüt Çavusoglu vor die Presse und zerlegte AKKs Pläne.

Mit seinen drei Amtskollegen aus dem Wahlkreis Nürtingen pflege er eine gute Zusammenarbeit. Als Experte für Arzneimittelversorgung genieße er das Vertrauen seiner Fraktion und auch anderer Parteien. Hier sieht Hennrich auch neue Herausforderungen – auf der einen Seite drängen Pharmakonzerne mit maßgeschneiderten Gentherapien auf den Markt, deren Kosten in die Millionen gehen. Zum anderen gebe es Lieferengpässe bei der Grundversorgung mit kostengünstigen Arzneimitteln. Es sei ein spannendes Aufgabengebiet.

Im Wahlkreis sei die Arbeit ebenfalls sehr angenehmen – insbesondere die Dialogtour, bei der er im vergangenen Jahr jeweils einen ganzen Tag in einer Gemeinde verbrachte, sei ein erfolgreiches Format.

Doch im Parlament sei durch den Einzug der AfD der Wind rauer geworden. „Die kultivierte Debatte ist in den vergangenen zwei Jahren verloren gegangen“, sagt Hennrich. Es werde unversöhnlicher.

In der Koalition sieht Hennrich eine gewisse Führungsschwäche. Sie könnte symbolisch sein für die Krise der Volksparteien, so Hennrich. Im Nachbarland Frankreich sehe man eine ähnliche Entwicklung – dort hätten sich die beiden einst großen Volksparteien marginalisiert. Vergleichbares, so seine Sorge, könnte auch der SPD und den Christdemokraten drohen, wenn sich der Politikstil nicht ändert. Er sei ein großer Fan des pragmatischen Stils von Angela Merkel. Aber er sei nicht mehr angesagt. Es gebe einen Wunsch nach mehr Führung, Orientierung und „klarer Kante“.

Die Gesellschaft drifte auseinander, so Hennrich. „Die Volksparteien stehen dafür, dass auch schwierige gesellschaftspolitische Fragen mit einem Kompromiss gelöst werden.“ Doch der Kompromiss als „Klebstoff der Demokratie“ sei in Verruf geraten – stattdessen stünden sich die Lager immer unversöhnlicher gegenüber. Hennrich sieht ein urban-liberales, der Globalisierung und Digitalisierung gegenüber aufgeschlossenes Milieu, dessen größte Sorge der Klimawandel ist, einem Lager gegenüber, das sich um die Zukunft sorgt und das der derzeitige rasante Wandel mit Sorge und Existenzängsten erfülle. Sie sind für eine Rückbesinnung auf das Nationale und eine homogene Gesellschaft. Deren größtes Problem ist die Migration. „Die Volksparteien müssen darauf eine Antwort finden“, so Hennrich.

Jens Spahn als Kanzlerkandidat?

Deshalb brauche man Führungspersönlichkeiten, die Orientierung geben und sich den gegenwärtigen Herausforderungen stellen, so Hennrich. Dafür hält Hennrich andere Parteifreunde für geeigneter als die mögliche Kanzlerkandidatin Annegret Kramp-Karrenbauer. Sein Wunschkandidat für eine Kanzlerschaft ist Jens Spahn, mit dem er auch schon fachlich sehr gut zusammenarbeite. Auch Markus Söder könne er sich als Kanzlerkandidat vorstellen. Beide eint, dass sie dem Fortschritt und dem digitalen Wandel gegenüber offen sind, gleichzeitig aber auch konservativere Wählerschichten ansprechen.

Doch mindestens genauso wichtig wie die Führungsfrage seien die Themen, bei denen die CDU liefern müsse. Neben dem Klimaschutz seien dies der Ausbau der Infrastruktur vom Breitband-Internet bis zur Eisenbahn und Energietransport, die Sicherstellung der „gleichwertigen Lebensverhältnisse“ in der Stadt und auf dem Land, die Stärkung und den Umbau der Wirtschaft. In Hennrichs Augen dringend ist eine Reform der Unternehmenssteuer. Außerdem muss die CDU die Themen Digitalisierung und Künstliche Intelligenz stärker besetzen.