Nürtinger Zeitung

Die arabische Welt im Schnelldurchgang

Die arabische Welt im Schnelldurchgang

14.06.2019, VON SYLVIA GIERLICHS —

Der Nürtinger CDU-Bundestagsabgeordnete Michael Hennrich informierte sich über die politische Lage im Nahen Osten

Der Nürtinger Bundestagsabgeordnete Michael Hennrich beschäftigt sich seit vielen Jahren mit dem Nahen Osten. Kürzlich bereiste er mit vier weiteren Abgeordneten der „Parlamentariergruppe arabischsprachiger Staaten des Nahen und Mittleren Ostens“ die Region.

„Wir wollten uns ein Bild von der politischen Lage in der Region, insbesondere auch in Syrien machen, von der Situation der Flüchtlinge dort, von den religiösen Konflikten in der Region. Immerhin gibt es beispielsweise alleine im Libanon 16 religiöse Strömungen“, erklärt Hennrich den Grund für diese Reise. Fünf Tage waren er und seine Kollegen vor Ort, reisten in den Libanon und nach Ramallah, aber auch nach Hebron, einer der Städte, in denen die angespannte Lage zwischen Israelis und Palästinensern immer deutlich spürbar ist.

Der Nahe Osten ist ein bisschen wie ein Vulkan, bei dem man nie weiß, wann der nächste Ausbruch kommt. Ein Krieg tobt seit acht Jahren in Syrien. Und wie nahe dieser Krieg ist, bekam Europa 2015 zu spüren, als sich Millionen Flüchtlinge aus Syrien zu Fuß auf den Weg dorthin machten. Das Nachbarland Israel ist zwar aktuell nicht im Krieg, doch seit 71 Jahren ist die israelisch-palästinensische Frage ungelöst. Das Nachbarland Libanon wurde selbst zweimal von Bürgerkriegen erschüttert, ist aber derzeit vor allem Zufluchtsort für Flüchtlinge aus Syrien. Und auch Palästinenser leben dort als Flüchtlinge.

„Zunächst einmal stimmte uns hoffnungsfroh, dass die Finanzierung des UN-Flüchtlingshilfswerks UNHCR anscheinend auf einem wesentlich stabileren Fundament steht als 2015“, sagt Hennrich. Ein wichtiger Punkt, denn die Flüchtlingswelle, die 2015 Europa und Deutschland erreichte, war auch darauf zurückzuführen, dass das UNHCR nicht mehr genügend Geld hatte, um die vielen Flüchtlinge aus Syrien adäquat mit Nahrungsmitteln zu versorgen. Schuld war auch, dass sich die Geberländer weigerten, ihre Hilfsgelder aufzustocken. Nun könne die allergrößte Not einigermaßen gelindert werden.

Gesprächsfaden zu Assad ist brüchig

Weniger hoffnungsvoll hört sich jedoch schon die zweite Nachricht an. Denn auf syrischer Seite gibt es eigentlich keine Möglichkeit, die Binnenflüchtlinge zu unterstützen, also Menschen, die nicht ihr Land verlassen haben, sondern in einer anderen Ecke des Landes ausharren, bis sie wieder nach Hause können. „Die Arbeit des UNHCR wird von der syrischen Regierung erschwert. Deswegen konzentriert sich die Arbeit der UN derzeit auf Jordanien, wo in Zaatari ein riesiges Flüchtlingslager existiert. Und auf den Libanon“, berichtet Hennrich. Obwohl Syrien nur einen Steinwurf entfernt ist, einen Blick hinüber in das kriegszerstörte Land taten die Abgeordneten aus Sicherheitsgründen nicht. Doch der Parlamentspräsident des Libanon empfing die Delegation und berichtete, der Gesprächsfaden zu Assad sei brüchig. Selbst die russische Regierung, eigentlich verbündet mit dem Assad-Regime, würde sich beschweren, dass der syrische Diktator zunehmend unzugänglicher und unberechenbarer werde.

Es gibt auf libanesischer Seite durchaus Ressentiments gegen die syrischen Flüchtlinge – auch dort denken große Teile der Bevölkerung, aber auch die seit Jahrzehnten dort lebenden Palästinenser, die neue Generation von Flüchtlingen aus Syrien erhielten mehr finanzielle Zuwendungen als sie. Eine Neiddebatte, die vielleicht auch in deutschen Ohren nicht ganz fremd klingt. „Deswegen achtet die deutsche Gesellschaft für internationale Zusammenarbeit auch darauf, dass beispielsweise bei Wasserprojekten auch die Einheimischen profitieren“, sagt Hennrich. Wie schwierig die Lebenssituation der syrischen Flüchtlinge im Libanon ist, davon konnte sich der Nürtinger Abgeordnete mit eigenen Augen überzeugen: „Wir besuchten eine syrische Familie in ihrer Wohnung. Sie leben in einem Mörtelbau, schlafen auf Matratzenlagern, der Blick geht auf einen schmuddeligen Hinterhof. Fünf Personen leben auf vielleicht 18 Quadratmetern.“ Doch das kleine Land am Mittelmeer kämpft nicht nur mit dem Flüchtlingsstrom. 2018 wurde im Libanon gewählt. Der große Gewinner: die schiitische Partei Hisbollah, die auch einen militanten Arm hat. Ministerpräsident ist Saad Hariri, der dem saudischen Königreich nahesteht.

Die politische Lage ist instabil. Die Regierungsbildung ist schwierig. Und Hennrich hat den Eindruck, dass die Religion von libanesischen Parteien als Vehikel genutzt wird, um Machtstrukturen abzusichern. Auch die libanesischen Nichtregierungsorganisationen, so Hennrichs Eindruck, betonen den religiösen Aspekt ein wenig zu stark. Doch die weit größere Herausforderung sieht der CDU-Abgeordnete in der wirtschaftlichen Entwicklung. „Das Land braucht neue Strukturen. Momentan ist es auf internationale Hilfe angewiesen, um die Infrastruktur auf Vordermann zu bringen“, analysiert er. Investitionen in Bildung und die Bauwirtschaft, aber auch eine Energiereform seien dringend notwendig.

Ein kleiner Abstecher führte die Abgeordneten nach Jordanien, wo sie das Parlament besuchten. Wo sie aber auch die deutsche Botschafterin für den Jemen trafen und sich die Lage in diesem vom Krieg geschüttelten Land erläutern ließen. Carola Müller-Holtkemper arbeitet derzeit in Amman, da die Sicherheitslage einen Aufenthalt im Jemen unmöglich macht. Ein Stellvertreterkrieg findet in dem Land am Golf von Aden statt. Denn der schiitische Iran und das sunnitische, besser wahabitische saudi-arabische Regime unterstützten dort zwei Rebellengruppen in ihrem mörderischen Kampf. Diesem Kampf schutzlos ausgeliefert ist, wie bei allen Stellvertreterkriegen, die Zivilbevölkerung, die zwischen den Fronten zerrieben wird, ihm aber nicht entfliehen kann. Hennrichs Fazit nach dem Gespräch mit der Botschafterin: „Es gibt hier wenig Anlass zu Optimismus.“ Der Bericht zur Situation im Jemen sei erschütternd gewesen. „Die humanitäre Lage muss furchtbar sein, die Cholera grassiert, es gibt kaum Zugang zu Wasser und keine Gesundheitsversorgung.“

Die nächste Station der Reise war Ramallah, die palästinensische Hauptstadt im Westjordanland. Von Amman nur einen Katzensprung entfernt. „Hier wollten wir uns nicht über die Zwei-Staaten-Lösung unterhalten, sondern ein Gefühl für die Sicherheitslage bekommen. Außerdem wollten wir uns über die soziale Lage informieren“, erklärte Hennrich. Ein Gespräch mit der palästinensischen Autonomiebehörde bewertete Hennrich eher vorsichtig. „Vielleicht geht es politisch in Richtung einer Ein-Staaten-Lösung mit geteilter Verantwortung. Dass die Zwei-Staaten-Lösung noch kommt, glaube ich persönlich nicht. Ich kann mir jedenfalls nicht vorstellen, wie sie funktionieren soll, denn das Land ist mit all den jüdischen Siedlungen sehr zerrissen“, lautet seine Einschätzung. Als nicht besonders hoffnungsvoll empfand er die Arbeit der Autonomiebehörde. „Da bewegt sich nichts mehr. Im Moment gibt es wieder Diskussionen darum, ob man zur Wahl aufrufen soll“, berichtet er. Die letzten Wahlen waren 2005. Hier müsse eine neue, vielleicht auch etwas pragmatischere Generation Verantwortung übernehmen, meint Hennrich.

Hebron: heilige Stadt für Juden und Araber

Eine Stadt, die besonders im Fokus stand, war Hebron. In der Stadt leben 140 000 Palästinenser und – in einem durch Checkpoints besonders gesicherten Viertel der Altstadt – etwa 30 000 Palästinenser und 800 jüdische Siedler, die von israelischen Soldaten geschützt werden. In diesem Bezirk sollen in der Höhle Machpela die Gebeine Abrahams, Saras, Isaaks, Rebekkas, Jakobs und Leas begraben sein. Das macht Hebron zu einer heiligen Stadt sowohl für Araber als auch für Juden. Immer wieder kommt es in Hebron zu gewalttätigen Auseinandersetzungen zwischen jüdischen Siedlern und Palästinensern.

Michael Hennrich kennt die Stadt aus seinem letzten Besuch im Jahr 2008. „Damals war die Stimmung aggressiv, wir wurden von jüdischen Siedlern gefilmt und sie zeigten uns ganz ungeniert ihre Maschinengewehre, die sie im Auto mitführten“, erinnert er sich. Damals hatte das oberste Gericht Israels die Räumung eines von jüdischen Siedlern besetzten Hauses angeordnet. Die Räumung verlief mit äußerstem Widerstand der Siedler, die auf Palästinenser schossen, drei Häuser und Olivenbäume anzündeten.

Deutschland investiert in soziale Infrastruktur

Verglichen mit den Erfahrungen von damals empfand Hennrich die Situation im Jahr 2019 zwar immer noch als angespannt, „aber die Bedrohung durch die Siedler war weniger gravierend“, beschrieb er die Lage. Sein Eindruck: man will eine Normalisierung in der Stadt erreichen. Wenn man von Normalisierung überhaupt sprechen kann. Dieser Eindruck wird auch durch die Anwesenheit einiger Touristen bestärkt, die den Suq in der Altstadt von Hebron besuchten.

Begleitet wurden die Abgeordneten von Mitgliedern der Hilfsorganisation Break the Silence, die den Deutschen soziale Einrichtungen zeigte. In Bethlehem besuchten sie aber auch eine Babystation. Hier konnten sie mit einer palästinensischen Ärztin, Dr. Hiyam Marzouqa, sprechen, die ihnen von ihrem Alltag in der Klinik berichtete. „Die Klinik hat im Jahr zwölf Millionen Euro zur Verfügung. Sie werden über Spenden aufgebracht“, erzählte Hennrich. Arbeiten auch unter schweren psychischen Bedingungen, wenn man am Jahresanfang nicht abschätzen kann, wie lange es die Einrichtung noch gibt.

Deutschland investiert im Westjordanland in die soziale Infrastruktur und in den Sicherheitsbereich. Um gemeinsam mit den Palästinensern eine eigene Sicherheitsstruktur aufzubauen. Der Besuch der Bundestagsabgeordneten hatte denn auch ein wenig Symbolcharakter. „Wir wollten auch deutlich machen, dass wir die Palästinenser nicht im Stich lassen“, sagte Hennrich. Die Menschen, sowohl Israelis als auch Palästinenser, seien des Konflikts überdrüssig, meinte der Nürtinger Abgeordnete, seinen Besuch reflektierend. Die arabische Welt im Schnelldurchgang – eine Reise, die sich ob der Eindrücke und vielfältigen außenpolitischen Informationen gelohnt hat. Eine Reise, die auch eindrücklich gezeigt hat, wie wichtig multilaterale Einrichtungen wie die Europäische Union sind. „Sie sollten nicht einfach nur als selbstverständlich hingenommen werden“, meint Hennrich.