„In Chemnitz sind Barrieren gefallen“
„In Chemnitz sind Barrieren gefallen“
Der CDU-Bundestagsabgeordnete Michael Hennrich zieht ein Jahr nach der Wahl Zwischenbilanz
Wer Michael Hennrich kennt, weiß: Vor klaren Worten über parteiliche Denkgrenzen hinweg scheut er sich nicht. Gestern blickte der CDU-Abgeordnete des Wahlkreises Nürtingen auf das seit der Wahl vergangene Jahr zurück. „Äußerst schwierig“ sei es gewesen, sagt Hennrich, der mittlerweile seit 16 Jahren die Bürger von hier in Berlin vertritt.
Schwer war die Regierungsbildung. Und dass die FDP die Jamaika-Koalition hat platzen lassen, das kann er immer noch nicht verstehen. „Das wäre gut gewesen“, glaubt er immer noch. Bei aller Wertschätzung für die neuen, alten Koalitionskollegen von der SPD.
Mit dem Vollzug der Regierungsbildung aber waren die außerplanmäßigen Schwierigkeiten nicht aus der Welt. Die Entwicklung kulminierte im unionlichen Frühsommer im Asylstreit zwischen den beiden Schwesterparteien. Rückblickend zitiert er CDU- und Regierungsurgestein Wolfgang Schäuble: „Wir haben in den Abgrund geschaut.“
Zuletzt aber, freute sich Hennrich gestern beim Gespräch mit Pressevertretern seines Landeskreises in der Oberboihinger „Linde“, habe die Union wieder Fuß gefasst. Schöne Debatten habe man angestoßen. Allgemeine Dienstpflicht, Organspende, Sozialpolitik: Man setze wieder Themen, anstatt „anderen Gruppierungen“ nur hinterherzulaufen.
Ja, und dann ist der Kirchheimer CDU-Mann dann eben doch wieder bei dem Thema, das die Union zu spalten droht(e) und in der Republik zu ungeahnten Verwerfungen führt: Migration. Hennrich sorgt sich darüber, dass die Gesellschaft nicht mehr am Konsens orientiert sei. Der Zusammenhalt, er sei vielerorts weg. Dennoch: Man müsse die „Pole zusammenführen“ – und nicht irgendwelchen Entwicklungen hinterherlaufen. Dass Letzteres nicht klappe, hätten die Schwierigkeiten gezeigt, in die die CSU geschlittert sei.
Hennrich konstatiert eine gesellschaftliche Spaltung, von der auch die CDU stark betroffen sei: „Das geht an die Substanz.“ Das Thema Migration werde in seiner Partei super kontrovers diskutiert. Stichworte wie Kandel, Sami A. und Chemnitz reihen sich aneinander. Aber statt Schwarz-Weiß-Malerei brauche es differenzierte Lösungen. Natürlich: Kriminelle müssen abgeschoben werden. Das sei eine Binsenweisheit. Ein Einwanderungsgesetz werde kommen. Ein vernünftiges. Weg vom kanadischen Punktesystem. Sondern verknüpft mit einem Arbeitsplatz. Hennrich kann sich ein zwei-, dreimonatiges Visum vorstellen für Arbeitsplatzsuchende. Aber man müsse auch Lösungen finden für die Menschen, die schon hier sind. Niederschwellig, ohne neue Gesetze. In Form von Verwaltungserlassen solle man hier Lösungen finden.
Differenzierte Lösungen – eben alles andere als das, was die AfD anbietet. Zu der will er sich höchstens gemäß ihrer maximal verdienten Bedeutung äußern. Es brauche Haltung in der Auseinandersetzung mit dieser Partei. Denn: „In Chemnitz sind Barrieren gefallen.“ Die AfD habe sich nicht distanziert. Einer ihrer Abgeordneten habe zur Selbstverteidigung aufgerufen. Das stelle den Rechtsstaat und sein Gewaltmonopol in Frage. Das korrespondiere mit unerträglichen Äußerungen wie der von Parteichef Alexander Gauland, der die Nazi-Zeit als Vogelschiss der deutschen Geschichte bezeichnet hatte. Sogenannte Protestwähler müssten sich überlegen, ob eine Stimme für die AfD das richtige Format für Protest sei.
Punkt. Zur AfD. Und zu Horst Seehofer, der die Migration erst gestern als „Mutter aller Probleme“ bezeichnet hatte? Die Migration sei schon ein Schlüssel, meint Hennrich. Seehofers Themen hätten schon Bedeutung, auch wenn er kein Freund des Innenministers sei. Migrationsfeindliche Menschen gab es schon immer. Eine wichtige Frage: Werden die mehr oder lauter?
Aber Hennrich will eben auch wieder konstruktive Debatten zu verschiedensten Themen führen, sich nicht treiben lassen. Es könnte ein Neustart sein. Für die CDU. Für Deutschland. Bei den Debatten um die allgemeine Dienstpflicht und die Organspende funktioniere das ganz gut. Die Dienstpflicht lehnt Hennrich ab. Lieber sollte man Anreize schaffen. Wie wäre es mit einem steuerfreien Jahr für ein Jahr geleisteten Dienst?
Eine allgemeine Dienstpflicht lehnt Hennrich ab
Überhaupt sei die Generationengerechtigkeit ein wichtiges Thema: die Rentenpolitik und die Finanzierung der sozialen Sicherungssysteme. Man müsse sich mit der demografischen Entwicklung auseinandersetzen. Perspektiven aufzeigen. Missstände bezüglich des Rentenniveaus und in der Pflege müssten angegangen werden, ohne eine Mentalität à la „Freibier für alle“ an den Tag zu legen – und dann den jüngeren Generationen die Zeche zu überlassen.
Thema Organspende. Hennrich bringt eine Bonus-Lösung ins Spiel. Soll der, der einen Organspender-Ausweis besitzt, Bonuspunkte für den Fall bekommen, dass er selbst einmal fremde Organe benötigt? Da denkt er anders als Gesundheitsminister Jens Spahn, der für eine Widerspruchslösung plädiert: Jeder wäre Organspender, bis er eben widerrufe. Ansonsten aber sieht er Spahn als „Mann der Zukunft“. Er sei streitbar. Schiebe viele Themen an. Man könne sich an ihm reiben. Und man kennt sich von gemeinsamen Anfängen. Das erleichtere vieles.
Denn auch Hennrich ist Gesundheitspolitiker. Zuständig vor allem auch für die Arzneimittel-Politik. Nach ruhigen Jahren gebe es schwere Probleme: die Skandale um Varsatan und gefälschte Krebsmittel. Versorgungssicherheit angesichts von Globalisierung sei anzustreben. Und: in der Krebsforschung gebe es Hoffnung für neue Gen-Verfahren – die seien aber sehr teuer. Daran müsse man arbeiten.
Freilich gibt es auch im Wahlkreis Themen, die Hennrich umtreiben. Zu den Kollegen der anderen Parteien hier hat er übrigens ein sehr gutes Verhältnis. Man spreche sich schon einmal ab. Mache etwas gemeinsam. Und man diskutiere offen. Zum Beispiel mit Nils Schmid vom roten Koalitionspartner.
Ein Kernthema der Region: Breitbandversorgung, Digitalisierung. Hennrich setzt auf die Initiative, in deren Zuge es eine Absichtserklärung des Verbands Region Stuttgart und der Telekom gebe. Man spreche mit den Bürgermeistern. Hennrich hat das Gefühl, dass man auf einem guten Weg ist. Und beim Verkehr? Der Bau der großen, zweigleisigen Wendlinger Kurve sei in seinem Sinne.
An das Thema Wohnungsbau und Innenverdichtung wiederum müsse man klug herangehen. Wenn es innerstädtisch landwirtschaftliche Flächen gebe, könne man bei einem Verkauf den Steuersatz senken: Anreize statt Zwänge auch hier. Und die Mietpreisbremse? Die gelte nicht für Neubauten. Also: Nicht nur die Mietpreise, sondern auch die Kaufpreise sind ein Problem. Es gebe auf jeden Fall zu wenig Wohnungen. Hennrich könnte sich vorstellen, jungen Familien beim Ersterwerb einer Immobilie die Grundsteuer zu erlassen.
Ein Megathema auch im Wahlkreis sei die Sozialpolitik. Die Kreiskliniken liefen sehr gut. Das kritische Thema sei eher die ambulante Versorgung mit Ärzten im ländlichen Raum. Die Kassenärztliche Vereinigung wolle in Neckartenzlingen ein Pilotprojekt starten. Kreativität sei auch gefragt, um die Pflegeberufe interessanter zu machen. Wie wäre es mit einem Sabbatical nach sieben Jahren Arbeit? Man müsse da Signale setzen. Die Idee, dem Pflegekräftemangel mit dienstverpflichteten jungen Menschen abzuhelfen, diskreditiere nur die Pflegeberufe. Auch hier ist Michael Hennrich eben ein Mann klarer Worte.