Nürtinger Zeitung

„Mehr Kreativität bei Wohnkonzepten“

„Mehr Kreativität bei Wohnkonzepten“

29.06.2018, VON BARBARA GOSSON —

Wohnungsnot und der Bauboom verändern das Gesicht der Kommunen – Ein Gespräch mit Michael Hennrich von Haus und Grund

Die Wohnungsnot ist groß im Kreis. Darum fordert die Politik Innenverdichtung. Das gefällt aber nicht allen, die auf einmal viel mehr Nachbarn bekommen. Wir haben mit dem CDU-Abgeordneten Michael Hennrich, Anwalt und Vorsitzender von Haus und Grund Württemberg, über die Lage im Wohnungsbau gesprochen.

Herr Hennrich, bei unserer Redaktion melden sich immer wieder Bürger, die nicht einverstanden sind mit geplanter Bebauung in der Nachbarschaft, vor allem, wenn diese viel größer ausfällt als der Vorgängerbau. Welche Erfahrungen machen Sie bei Haus und Grund?

Das Thema Wohnungen und Wohnraum war schon immer mit Spannungen besetzt. Früher wurde einiges noch nachbarschaftlich geregelt, heute wird schneller der Anwalt bemüht. Häufige Fälle betreffen Genehmigungen, Abstandsflächen oder geplante Unterkünfte für Flüchtlinge. Die hohen Grundstückspreise zwingen jedoch dazu, die Grundstücke bis zum Letzten auszureizen. Das ist aber auch politisch gewollt: Das Motto lautet Innenverdichtung statt Flächenversiegelung. Das halte ich auch für notwendig in unserer dicht besiedelten Region. Die Innenverdichtung sollte Priorität haben, denn der Wohnraumbedarf ist so groß, dass es nur so funktionieren kann.

Es wird viel gebaut. Oft sind Bürger empört, wenn in ihrer Nachbarschaft ein großes Mehrfamilienhaus genehmigt wird, während man ihnen eine einfache Gaube verwehrt. Wird das Baurecht aufgeweicht?

Der Paragraf 34 des Baugesetzbuches besagt, dass sich ein Gebäude in die Umgebungsbebauung einfügen soll, wenn es sonst keinen Bebauungsplan gibt. Das kann man gerichtlich nachprüfen lassen. Die Grenzen des Baurechts verändern sich vor dem Hintergrund berechtigter öffentlicher Interessen, hier der Schaffung von Wohnraum. Dieses öffentliche Interesse steht hier gegen das nachbarschaftliche Interesse, da hat sich in der Rechtsprechung vielleicht schon etwas verändert.

Gerade der Paragraf 34 im Baugesetzbuch kommt Laien wie ein sehr willkürlicher Gummiparagraf vor, der in jeder Kommune anders ausgelegt wird.

Wo es, wie in Nürtingen, eine bunte Mischung an Gebäudeformen gibt, kann der Paragraf weiter ausgelegt werden als in einer Ortschaft mit einheitlichen Gebäuden.

Man hat den Eindruck, dass die Ortschaften gerade einen starken Wandel durchmachen und ihr Gesicht für immer verändern.

Oft werden alte Bauernhäuser mit Nutzgebäuden durch Mehrfamilienhäuser ersetzt, die dann das Ortsbild neu prägen. Lange Zeit hatten wir Stillstand bei Wohnungsbauaktivitäten, wodurch sich in den letzten sechs bis acht Jahren ein Defizit aufgebaut hat. Erst wurde zu wenig gebaut, jetzt gibt es einen Run auf Bauland, auch begründet durch die niedrigen Zinsen. Das Land hat eine Wohnraum-Allianz begründet, um Potenziale zu erschließen. Ganz ohne neue Baugebiete wird es aber nicht gehen.

Der Wandel ist auch anderen Ansprüchen an das Wohnen geschuldet. Was sehen Sie da für die Zukunft?

Wir brauchen Kreativität bei neuen Wohnkonzepten. Es gibt da ganz innovative Ideen, wie beispielsweise Flying Spaces, bei denen sich die Größe der Wohnung je nach Bedarf ändern lässt. Mit ein Grund für die Wohnungsnot ist ja auch, dass alte Menschen in viel zu groß gewordenen Häusern leben. Das ist hierzulande auch kulturell geprägt, da steht eine Lebensleistung dahinter. Dabei bräuchten viele der Menschen kleinere, barrierefreie Wohnungen. Von denen müssten in den nächsten Jahren auch viele gebaut werden. Da besteht genauso Nachholbedarf wie im sozialen Wohnungsbau.

Auf der anderen Seite ist es immer schwerer für Menschen, Wohneigentum zu erwerben. Was kann hier getan werden?

Die Grundstückspreise haben sich in den vergangenen Jahren verdreifacht, Es bleibt also nichts anderes übrig, als die Flächen stärker zu nutzen. Derzeit kostet ein unbebauter Quadratmeter in Nürtingen zwischen 600 und 1000 Euro und 3500 Euro bebaut. In Heilbronn, Esslingen oder Tübingen liegt der bebaute Quadratmeter schon bei 5700 Euro. Viele Bauherren verzichten schon aus Kostengründen auf einen Keller. Gleichzeitig steigen die Auflagen an das Bauen. Nützt man die Grundstücke nicht maximal, ist das Bauen nicht mehr erschwinglich. Ludwigsburg hat inzwischen die Auflage, einen bestimmten Prozentsatz Sozialwohnungen zu bauen. Eine Kommune kann politisch regeln, ab welcher Größe eines Bauvorhabens welcher Prozentsatz für den sozialen Wohnungsbau vorbehalten sein soll. Außerdem regelt der Regionalplan, dass die Entwicklung entlang der großen Verkehrsachsen erfolgen soll.

Was raten Sie Hausbesitzern, wenn sie in Ihre Kanzlei kommen und sich gegen ein geplantes Bauvorhaben in der Nachbarschaft wehren wollen?

Das hängt natürlich vom Einzelfall ab. Auf jeden Fall versuchen wir, das Bewusstsein für den knappen Wohnungsmarkt zu wecken. Zwar kennt das Baurecht eine drittschützende Norm, dazu gehören aber weder Verschattung noch eine verloren gegangene Aussicht. Eine Möglichkeit sind die Anhörungen im Rahmen des Baugenehmigungsverfahrens. Die Behörden haben da durchaus Sachverstand. Es gibt eine gefestigte Rechtsprechung zu den Rechten Dritter, die gut begründet ist.

Was kann die Politik gegen den Wohnungsmangel tun?

Alleine in Baden-Württemberg fehlen 300 000 Wohnungen. Also sollte mehr gebaut und auch neue Flächen ausgewiesen werden. Freie Baugrundstücke müssen mobilisiert werden. Außerdem brauchen wir eine Deregulierung, beispielsweise sollten die Regelungen in der Landesbauordnung auf die Fassung vom Jahr 2010 zurückgeführt und die Empfehlungen der Wohnraum-Allianz schnellstmöglich umgesetzt werden. Die Landesbauordnung sollte so flexibel gestaltet werden, dass die Kommunen mehr selbst entscheiden können, zum Beispiel die Anzahl der Stellplätze. Es sollten keine weiteren zusätzlichen Standards beim Bauen erzwungen werden. Wir brauchen mehr Bauland und das Bauen an sich muss günstiger werden. Ein Grunddilemma ist die geringe Eigentumsquote von nur 44 Prozent in Deutschland. Und es wird immer schwieriger, Wohneigentum zu erwerben. Ein Ärgernis dabei ist die Grunderwerbssteuer. Sie sollte zumindest für den Ersterwerb abgeschafft werden. Das wäre viel sinnvoller als das Baukindergeld. Ich sehe da einen Dreiklang: Mehr Flexibilität, neue Flächen mobilisieren und günstiger bauen.