Nürtinger Zeitung

Warten, bis der Arzt kommt

Warten, bis der Arzt kommt

17.03.2018, VON MATTHÄUS KLEMKE —

Hausärztemangel: In Neckartailfingen schließen demnächst zwei Praxen – Nürtinger Hausärzte an Kapazitätsgrenze

Es ist eine bedrohliche Situation: Der Gemeinde Neckartailfingen gehen die Hausärzte aus. Die Praxen in der Umgebung sind überlastet. Der Versuch, Ärzte in die Gemeinde zu locken, ist schwieriger als erwartet.

Seit 20 Jahren praktiziert Dr. Utz-Friedrich Blickle in Neckartailfingen. Ende des Monats möchte der Arzt altersbedingt aufhören. Für seine Patienten bedeutet das, sie müssen sich auf die Suche nach einem neuen Hausarzt machen. Damit aber nicht genug: Auch die Neckartailfinger Hausärztin Dr. Luitgard Unger dürfte ihre Praxis aus Altersgründen in absehbarer Zeit dichtmachen. Nachfolger für die Stellen konnten bislang nicht gefunden werden. Jetzt schlagen die Hausärzte in der Umgebung Alarm.

Denn neben den Medizinern in Neckartailfingen plant auch Dr. Marga Mayer in Neckartenzlingen Ende Juni in den Ruhestand zu gehen. Der zweite Hausarzt in Neckartenzlingen, Dr. Joachim Fälchle, ist mit rund 2000 Patienten pro Quartal an seiner Kapazitätsgrenze und nimmt keine weiteren mehr auf. In Altdorf gibt es keine Praxis. Für rund 11 600 Menschen in den Gemeinden Neckartenzlingen, Neckartailfingen und Altdorf stehen also bis Ende 2018 voraussichtlich nur noch zwei Praxen zur Verfügung.

Seit anderthalb Jahren sucht Blickle nach einem Nachfolger. Mittlerweile hat sich auch die Gemeinde Neckartailfingen selbst in die Suche eingeschaltet. „Zuerst hatten wir auch einen jungen Arzt, der die Nachfolge antreten wollte. Der entschied sich dann aber ins Ausland zu gehen“, sagt Bürgermeister Gerhard Gertitschke.

Ein Trend, der in ganz Deutschland zu beobachten ist: Junge Ärzte zieht es ins Ausland, weil dort die Verdienstmöglichkeiten besser sind. Ein weiteres Problem: Immer weniger Ärzte wollen in Vollzeit arbeiten. Ihnen ist es wichtig, Familie und Beruf unter einen Hut zu bekommen. „Das bedeutet, die Arbeit in einer Praxis muss auf mehrere Ärzte aufgeteilt werden“, sagt Gertitschke.

Die Rahmenbedingungen für ein Ärztehaus, unter dessen Dach mehrere Ärzte zusammen arbeiten, habe man geschaffen, so der Rathauschef: „Mittlerweile haben wir einen Investor für eine Gemeinschaftspraxis gefunden. „Das Problem ist, dass es einfach keine Ärzte gibt, die herkommen wollen“. Die Angst vor einer baldigen Unterversorgung ist groß, so Gertitschke.

Der Hausärztemangel betrifft allerdings längst nicht mehr nur die ländlichen Gebiete. Laut Kassenärztlicher Vereinigung Baden-Württemberg (KVBW) sind derzeit 1360 Hausärzte älter als 65 Jahre. Es gäbe nicht genügend Nachwuchs, um die ausscheidenden Ärzte zu ersetzen. Bereits jetzt seien rund 500 Allgemeinarztpraxen nicht besetzt. In den kommenden Jahren soll sich die Lage noch weiter zuspitzen: „Wir rechnen damit, dass wir in den nächsten fünf Jahren ungefähr 500 weitere Praxen nicht werden nachbesetzen können“, sagt Kai Sonntag, Pressesprecher der KVBW.

Aufgabe der KVBW ist es dafür sorge zu tragen, dass keine Unter- oder Überversorgung an Ärzten in einem Planungsbereich entsteht. Gibt es in einer Region zu viele Ärzte, wird ein Zulassungsstopp verhängt. Droht eine Unterversorgung, gibt es finanzielle Unterstützung von der KV, um Anreize für Ärzte zu schaffen.

„Die Leute stehen vor einem Riesenproblem“

Dr. Matthias Heinemann, Hausarzt

Welcher Bereich unter- oder überversorgt ist, entscheidet sich anhand eines Bedarfsplans, der 1993 vom Gesetzgeber vorgegeben wurde – damals, um Ärzteschwemme zu verhindern. Laut diesem besteht eine hundertprozentige Versorgung, wenn auf 1671 Einwohner ein Hausarzt kommt. Eine Unterversorgung liegt ab einem Wert von ungefähr 80 vor. Im Mittelbereich Nürtingen, zu dem auch die drei betroffenen Gemeinden gehören, kommen auf 111 912 Einwohner 68,25 Ärzte – das macht einen Versorgungsgrad von 102,3 Prozent. „Selbst, wenn die Praxen in Neckartailfingen und Neckartenzlingen wegfallen, kann laut Bedarfsplan in dem Mittelbereich Nürtingen nicht von einer Unterversorgung gesprochen werden“, sagt Sonntag: „Dass der Bedarfsplan oft nicht der Realität entspricht, ist uns durchaus bewusst.“

Die Idee hinter dem Plan: Menschen in schlecht versorgten Gemeinden können sich in umliegenden Kommunen behandeln lassen. Die Wirklichkeit sieht anders aus: „Von meinen Patienten höre ich oft, dass Ärzte in Nürtingen keine neuen Patienten mehr aufnehmen, weil sie an der Kapazitätsgrenze sind“, so Blickle. Das wollten wir genauer wissen und fragten bei Nürtingens Hausärzten nach. Von 14 Praxen nehmen elf keine oder nur bedingt neue Patienten auf. Bedingt bedeutet in den meisten Fällen, dass nur Patienten aus dem Stadtteil angenommen werden, in dem der Arzt ansässig ist. Nur drei Ärzte nehmen noch neue Patienten auf, befinden sich ebenfalls am Limit.

Dr. Matthias Heinemann aus Raidwangen warnt: „Die Leute aus Neckartailfingen, Neckartenzlingen und Altdorf stehen vor einem Riesenproblem.“ Vor allem älteren und chronisch kranken Menschen sei es oft nicht möglich, längere Anfahrtswege in Kauf zu nehmen.

Die KVBW drängt jetzt gemeinsam mit der Baden-Württembergischen Krankenhausgesellschaft (BWKG) auf eine politische Veränderung. So müsse die Zahl der Studienplätze in der Humanmedizin aufgestockt werden. Zudem fordern KVBW und BWKG den Abbau von unnötiger Bürokratie: „Ärzte, Krankenhäuser und Pflegeeinrichtungen sollten von der Hälfte ihrer Dokumentationspflicht befreit werden“, sagt Sonntag.

Nicht zuletzt müsse auch die Bedarfsplanung nochmals aktualisiert werden: „Die Politik sollte vielleicht die Maßnahmen, die sie selbst beschlossen hat, überdenken und an die heutige Zeit anpassen“, sagt Sonntag. Zwar stehe im neuen Koalitionsvertrag, dass die Bedarfsplanung überarbeitet werden soll, „allerdings wurde bisher noch nicht einmal die letzte Reform umgesetzt, die vor zwei Jahren beschlossen wurde“, klagt Sonntag an.

Nach der letzten Aktualisierung im Jahr 2012 arbeitet die Politik derzeit an einer Neufassung der Bedarfsplanung. Dass es zu wenige Ärzte in Deutschland gibt, glaubt Michael Hennrich, CDU-Bundestagsabgeordneter und stellvertretender gesundheitspolitischer Sprecher seiner Fraktion, nicht: „Die größte Herausforderung ist, die Ärzte, die wir haben, dorthin zu bekommen, wo sie gebraucht werden.“ In dem überarbeiteten Bedarfsplan soll es bei der hausärztlichen Versorgung vor allem darum gehen, unterversorgte Gebiete zu definieren und zu fördern.

Deshalb habe man in der vergangenen Legislaturperiode den „Masterplan Medizinstudium 2020“ auf den Weg gebracht. Statt auf mehr Studenten setzt man auf eine bessere Verteilung des medizinischen Nachwuchses: „Unter anderem ist eine Landarztquote vorgesehen, mit der die Bundesländer einen Teil der Studienplätze für Studenten vorhalten können, die sich zu einer späteren Niederlassung im ländlichen Raum verpflichten“, so der Gesundheitspolitiker aus dem Wahlkreis Nürtingen.

Auch müsse man über weitere finanzielle Anreize nachdenken: „Die Vergütung der Ärzte auf dem Land ist besser als vor drei Jahren, aber ich kann mir vorstellen, dass man das noch weiter ausbaut.“ Zur Not müsse man die KV gesetzlich dazu verpflichten, höhere Vergütungen zu zahlen.

Alleine in Berlin könne man dieses Problem aber nicht lösen: „Es sind auch Anstrengungen vor Ort nötig. Wir werden in dieser Legislaturperiode einen Schwerpunkt auf die Steigerung der Lebensqualität in den ländlichen Räumen setzen. Dazu zählen unter anderem eine bessere Infrastruktur im Verkehr sowie bei der Versorgung mit schnellem Internet oder auch eine Aufwertung unserer Schulen und Kinderbetreuungsmöglichkeiten“, so Hennrich.

Für Gemeinden wie Neckartenzlingen, Neckartailfingen oder Altdorf dürfte das aber nur ein schwacher Trost sein, denn solche Vorhaben werden erst in einigen Jahren greifen. Für dringende Fälle hat die KVBW Sofortmaßnahmen vorgesehen. So wurden unter anderem 800 Ärzte, die derzeit nicht arbeiten, angeschrieben, um sie zur Rückkehr zu bewegen. Im April beginnt zudem der Modellversuch „DocDirect“, bei dem Patienten online beim Arzt vorstellig werden können.

Was das für die Patienten von Dr. Blickle bedeutet, ist noch nicht absehbar. „Ich gehe mit einem sehr zwiespältigen Gefühl in den Ruhestand. Zum einen freue ich mich darauf, aber ich mache mir auch große Sorgen um die Zukunft meiner Patienten.