Nürtinger Zeitung

Rund um den Nürtinger Maientag

Manchmal muss man auch alte Traditionen auf den neuesten Stand bringen. Und manchmal kommt dabei auch etwas Überraschendes zutage: Zum Beispiel, dass die Stadtkapelle singt. Und wie! Und was! Eine Liebeserklärung ans Schwabenland ertönte da aus voller Brust. Voller Freude und voller Schmiss. Das Publikum war begeistert. Da spielte es auch keine Rolle, dass die Ode im Grunde eine „Raubkopie“ war. Im Original heißt sie nämlich „Dem Land Tirol die Treue“. Das wussten vermutlich viele nicht. Aber alle, die man hörte, fanden: Das muss auf jeden Fall so bleiben. Dieses Lied gehört nun unbedingt dazu. Ob für die nächsten 415 Jahre, das muss erst die Zeit weisen. Auf jeden Fall war es für viele der Start zu einer neuen Tradition. Denn Schwaben und Tiroler verbindet ja einiges.

Alles funktioniert indes selbst bei einem gut durchgeplanten Maientag nicht. Die Mikrofone bei der Brotübergabe am Samstag waren der beste Beweis dafür. Welches Gerät Oberbürgermeister Otmar Heirich auch in die Hand nahm – es versagte seinen Dienst. Die Variante, es einfach mit beiden gleichzeitig (eins in der Linken, eins in der Rechten) zu versuchen, war zwar eine pfiffige Idee, aber auch nicht zielführend. Und so schloss er sich der Tradition seiner Vorgänger aus vortechnischer Zeit an und sprach einfach so mit lauter Stimme. Und das klappte prima. Manchmal ist eben auch ein Schritt zurück ein Schritt nach vorne.

Im Nürtinger Maientags-Himmel war Bundestagsabgeordneter Michael Hennrich. Aber sofort nach Ende des Festzugs zog es ihn die „Grüne Hölle“. Nein, nicht etwa zu einem Gespräch mit Ministerpräsident Winfried Kretschmann, sondern zur Nordschleife des Nürburgrings, wo zeitgleich das legendäre 24-Stunden-Rennen stattfand. Das hatte er seinem Sohn Paul zu Weihnachten geschenkt. Der ist begeisterter Motorsportfan.

Ein echter Nürtinger ist schon in seiner Kindheit beim Maientag mitgelaufen. Und wenn man Stadtrat ist, natürlich später auch noch. Dr. Michael Brodbeck etwa war schon als Schüler zweimal mit von der Partie, und er kann sich nur an einen einzigen Maientag erinnern, an dem er fehlte: 1978 war das. Da hatte er seit wenigen Tagen das Abitur in der Tasche. Deswegen wollte er mit Kumpels die große weite Welt erkunden. „Interrail“, die Billig-Fahrkarte der Bahn, war damals in. Mit den Kumpels zog es ihn gen England und Frankreich. Heute wäre das für ihn undenkbar: „Jeder, der ein echter Nürtinger ist, ist am Maientag einfach da.“ Das meint auch sein Stadtrats-Kollege Hermann Quast, Jahrgang 1948: „Ich bin schon als Kind mindestens fünfmal mitgelaufen, einmal auch als Bräutigam mit Zylinder.“ Und stolz erzählt er heute noch von seinem Papa Alfred, der das von Otto Zondler geschaffene Urviech „Elvira“ („So etwas wie ein Saurier“) durch die Straßen zog. Unter dem Ungeheuer war damals übrigens ein Ketten-Krad verborgen.

Na, was ist denn das? Das mag sich so mancher Besucher des ökumenischen Maientagsgottesdienstes gestern Morgen in der Stadtkirche Sankt Laurentius gedacht haben. Friedrich Schillers „Bürgschaft“ als Schriftlesung, „Ein Freund, ein guter Freund“ von den Comedian Harmonists als Gemeindelied zum Mitsingen – es steht gewaltig in Zweifel, ob die altehrwürdige Stadtkirche, die von manchen als „Pietistenhochburg“ verspöttelt wurde und wird, in diesen 415 Jahren jemals Ähnliches erlebt hat. Und 500 Jahre nach der Reformation banden sich Katholen und Evangelen sogar Freundschaftsbändel um. Kaum zu fassen! Aber für die, die die Entwicklung der letzten Jahre nicht nur von außerhalb der Kirchenmauern verfolgt haben, war das alles andere als verwunderlich. Da tut sich schon lange was – nicht erst, seit die Katholiken erstmals seit fast einem halben Jahrtausend das Fronleichnamsfest wieder in dieser Kirche feiern konnten. Aber auch so war es beeindruckend, wie Pfarrer Markus Lautenschlager und Pastoralreferent Marcel Holzbauer das Jesus-Wort „Ihr seid meine Freunde“ in die Gegenwart rückten und eine neue Sicht öffneten. Der Maientag ist ja nicht zuletzt ein Fest der alten Freunde. jg