Nürtinger Zeitung

Erlogene neue Welt

17.12.2016, VON MATTHÄUS KLEMKE —

Falschmeldungen zu verbreiten ist so einfach wie nie zuvor – doch wie gefährlich sind Fake-News wirklich?

In Deutschland ist eine politische Diskussion über Falschmeldungen im Internet entbrannt. Wir sprachen mit Kommunikations- und Medienwissenschaftler Oliver Zöllner darüber, warum sogenannte Fake-News eine Bedrohung für die Demokratie sind und fragten Politiker aus dem Wahlkreis nach ihrer Sorge um einen schmutzigen Wahlkampf im Netz.

Es war ein vermeintliches Zitat von Renate Künast, dass in Deutschland eine Debatte über Falschmeldungen im Internet auslöste. Sie soll den Verdächtigen im Fall der getöteten Studentin aus Freiburg in Schutz genommen haben. Das Bild der Politikerin samt falschem Zitat verbreitete sich rasch auf Facebook. Künast stellte Strafanzeige gegen die Urheber der Meldung. Andere Politiker fordern jetzt schärfere Gesetze gegen sogenannte Fake-News im Internet. Vor der Bundestagswahl befürchten sie einen schmutzigen Bundestagswahlkampf im Internet.

Welche Eigendynamik Falschmeldungen im Netz entwickeln können, wurde im US-Wahlkampf deutlich. Nachdem die Meldung verbreitet wurde, Hillary Clinton und ihre Wahlkampfhelfer betreiben von einem Restaurant aus einen Pädophilen-Ring, stürmte ein Mann die Pizzeria in Washington und schoss um sich.

Gefühlte Wahrheiten anstelle von Fakten – in der heutigen Gesellschaft ist die Bereitschaft, offensichtliche Lügen hinzunehmen und Tatsachen zu ignorieren so groß, dass die Gesellschaft für deutsche Sprache „postfaktisch“ zum Wort des Jahres gewählt hat, um den Blick auf einen „tiefgreifenden politischen Wandel“ zu lenken, wie es in der Begründung heißt.

Und so scheint es, dass Fake-News ein neues Phänomen sind, das mit diesem politischen Wandel einhergeht. Dabei ist laut Professor Dr. Oliver Zöllner, Kommunikations- und Medienwissenschaftler und Leiter des Instituts für Digitale Ethik an der Hochschule der Medien in Stuttgart, eine öffentliche Diskussion über Falschmeldungen längst überfällig: „Desinformationen werden seit vielen Jahren verbreitet – Propaganda gibt es seit über 2000 Jahren. Heute geschieht das nur über neue Kanäle.“

Über Plattformen wie Facebook und Twitter hat die gezielte Verbreitung von falschen Nachrichten eine neue Dimension erreicht: „Es war noch nie so einfach wie heute, eine Falschmeldung zu verbreiten. Im Internet kann jede Person zum Sender werden und eine große Anzahl von Empfängern erreichen. Außerdem gibt es Social Bots, also Software, die darauf programmiert wurde, Fake-News in die Welt zu setzen.“ Social Bots sollen es auch gewesen sein, die im US-Wahlkampf Fake-News im Internet verbreitet haben. „Es gibt aber auch Gruppierungen, die gegen Bezahlung Falschmeldungen verbreiten. Fake-News sind zu einem Geschäftsmodell geworden.“

Lügen verbreiten, um Geld zu verdienen – im Fall des US-Wahlkampfs führte die Spur bis nach Mazedonien, von wo aus Jugendliche Falschmeldungen in die Welt setzten, um mit den Werbeeinnahmen Geld zu machen. „Manche dieser News sind so verrückt, dass sie sofort als falsch entlarvt werden können“, sagt Zöllner.

„Es ist bequemer, etwas zu glauben, als es zu hinterfragen“

Oliver Zöllner, Medienwissenschaftler

Dennoch scheint es vielen Menschen schwerzufallen, falsche Nachrichten von richtigen zu unterscheiden. „Heute ist es noch schwieriger geworden zu überprüfen, welche Nachricht stimmt und welche nicht. Vielen Menschen fehlt da einfach die Medienkompetenz. Hinzu kommt, dass die Menschen zu vertrauensselig sind. Viele denken, wenn etwas millionenfach im Internet geteilt wird, muss es ja stimmen. Dabei ist gerade Facebook als Nachrichtenquelle denkbar ungeeignet.“ Doch der wichtigste Grund sei die Bequemlichkeit der Leute: „Es ist bequemer, etwas zu glauben, als es zu hinterfragen.“

Wie gefährlich kann diese Bequemlichkeit werden? „Es kann durchaus eine gefährliche Sache sein. Wenn Leute immer nur dieselben Nachrichten widergespiegelt bekommen und in ihrem Weltbild hängen bleiben, dann kann es sein, dass sich bestimmte Teile der Gesellschaft abkoppeln.“ Mit sachlichen Argumenten seien diese Gruppen nur schwer zu erreichen und vom Gegenteil zu überzeugen. „Wenn es sich dann noch um radikale Gruppierungen handelt, ist das eine Gefahr für die Demokratie.“

Unter deutschen Politiker geht die Angst vor Stimmungsmache vor der Bundestagswahl um. In der Großen Koalition werden Stimmen laut, die härtere Strafen gegen die Verbreitung von Fake-News fordern. Unbegründete Panikmache oder können Fake-News wirklich den Ausgang einer Wahl beeinflussen?

„Wenn es wirklich passiert, dass sich große Teile der Gesellschaft abspalten, dann ja“, sagt Zöllner: „Dass aber Fake-News bei uns so hohe Wellen schlagen wie bei den US-Wahlen glaube ich nicht, denn wir haben eine ganz andere Ausgangslage in Deutschland. Die Art der Informierung ist eine ganz andere. Hier gibt es noch eine große Tageszeitungs-Landschaft. In den USA sind die meisten Medien – vor allem das Fernsehen – hirntot.“

Und wie schätzen Politiker aus dem Wahlkreis Nürtingen die Situation ein? Nils Schmid, Nürtinger SPD-Kandidat für die kommende Bundestagswahl und ehemaliger Finanzminister von Baden-Württemberg, warnt vor der Entwicklung und hofft auf einen sauberen Wahlkampf im Netz: „Man sollte das auf jeden Fall ernst nehmen. Die demokratischen Parteien müssen sich darauf Verständigen, Social Bots im Wahlkampf nicht einzusetzen.“

Schmid glaubt, dass Falschmeldungen durchaus Wähler beeinflussen können: „Man muss nur an den Fall der vermeintlichen Vergewaltigung einer Minderjährigen durch Flüchtlinge in Berlin denken. Da gab es in mehreren Städten plötzlich Demonstrationen und keiner wusste warum.“ Dass härtere Strafen eine große Wirkung hätten glaubt Schmid nicht: „Was wir brauchen sind aufgeklärte Bürger, die auf Falschmeldungen nicht hereinfallen. Umso wichtiger ist der Informatik-Unterricht in den Schulen, den wir ausbauen müssen.“

Der CDU-Bundestagsabgeordnete Michael Hennrich sieht die Internetnutzer in der Verantwortung: „Es gibt Menschen, die ihr Bild von Deutschland und der Welt allein aus den sozialen Medien herleiten. Wichtig ist, dass die Zahl dieser Leute nicht überhandnimmt. Es ist die Sache der Verbraucher, auf eine gewisse Qualität im Journalismus zu achten.“ Bei Facebook sieht Hennrich Handlungsbedarf: „Facebook sollte selbst daran interessiert sein, Seriosität zu wahren.“ Wie sehr er auf die neuen Medien im Wahlkampf setzen wird, diskutiere er derzeit mit seinen Mitarbeitern: „In politischen Dingen baue ich lieber auf die klassischen Medien, vorwiegend auf die Tageszeitung. Der Wahlkampf im Netz hat zu viele Schwachstellen, gerade was die Anonymität und die Social Bots angeht“.

Matthias Gastel, Bundestagsabgeordneter der Grünen, sieht in den Fake-News ein wachsendes Risiko für den sozialen Frieden: „Weil Teile der Gesellschaft genau das glauben, was sie glauben wollen und im Internet ihre eindimensionale Sichtweise auf die Welt bestätigt wird.“ Zwar denkt er nicht, dass Fake-News hierzulande eine solch große Wirkung haben werden wie in den USA, dennoch könnten sie die Meinung einiger Wähler beeinflussen: „Die Wähler entscheiden sich immer kurzfristiger. Je kurzfristiger ich mich entscheide, umso anfälliger bin ich für Falschmeldungen.“

Und wie sehr leidet das Image der Medien unter den Fake-News? Wird der Begriff „Lügenpresse“ jetzt wieder häufiger auf den Straßen skandiert? Zöllner sieht in den Fake-News keine Gefahr für klassische Medien – im Gegenteil: „Ich kann mir gut vorstellen, dass die Leute klassische Medien und gut recherchierte Geschichten nach den vielen Berichten über Falschmeldungen wieder mehr zu schätzen wissen. “

Facebook reagiert auf Kritik

Härtere Gesetze gegen die Verbreitung von Falschmeldungen hält der Medienwissenschaftler für den falschen Ansatz: „Ich denke, es gibt ausreichend Gesetze, die in solchen Fällen greifen. Was geschehen muss ist, dass sich Plattformen wie Facebook und Twitter ihrer redaktionellen Verantwortung stellen und unpassende Beiträge schneller löschen oder blockieren. Vor allem brauchen wir aber mehr Medienkompetenz. Kinder sollten am besten schon im Kindergarten, spätestens aber ab der Grundschule, lernen, wie mit Inhalten im Netz umzugehen ist.“

Facebook hat auf die zahlreichen kritischen Stimmen nach der US-Wahl reagiert. Künftig sollen Nutzer Falschnachrichten einfacher melden können. Gehen genügend Hinweise ein, gibt Facebook die Meldung an ein Netzwerk weiter, wo die Richtigkeit der Nachricht überprüft werden soll.