Ist die Apotheke vor Ort in Gefahr?
23.11.2016, VON JÜRGEN GERRMANN — Der Nürtinger Bundestagsabgeordnete Michael Hennrich über Rabatte für Arzneimittel und andere aktuelle Gesundheitsthemen
Ein großes Thema für die Deutschen ist die Gesundheit. „Hauptsache gsond“, sagt der Schwabe. Das Dumme ist nur: Auch das hat seinen Preis. Und der ist in den vergangenen Jahren immer höher geworden. Darüber und über andere aktuelle Themen unterhielten wir uns mit dem Gesundheitsexperten der CDU-Bundestagsfraktion: Nürtingens MdB Michael Hennrich.
Sie sind Obmann der CDU-Fraktion im Gesundheitsausschuss des Deutschen Bundestages. Das ist ein Thema, das sich sonst eher im Schatten abspielt. Aber in letzter Zeit ist ganz schön viel ins Licht gerückt worden. Woran denken Sie da zuerst?
Stimmt. In den ersten drei Jahren unserer Koalition war alles in sehr ruhigem Fahrwasser. Wir haben die Themen des Koalitionsvertrages abgearbeitet. Insbesondere bei der Pflege. Wir haben zum Beispiel geschaut, dass insbesondere die Demenz mehr berücksichtigt wird und dabei auch die Angehörigen besser entlastet werden. Und für Entbürokratisierung gesorgt.
Was ist dabei konkret verbessert worden?
Für mich ist die Neubestimmung des Begriffs der Pflegebedürftigkeit die zentrale Reform. In der Vergangenheit haben wir Pflegeleistungen dann gewährt, wenn jemand körperlich nicht mehr in der Lage war, gewisse Dinge zu machen: sich anziehen, selber kochen oder einkaufen zum Beispiel. Das hat dazu geführt, dass etwa das Thema Demenz unzureichend berücksichtigt wurde.
Was ist nun anders geworden?
In Zukunft gehen wir nicht mehr davon aus, was jemand kann. Sondern wir stellen die Betreuung in den Mittelpunkt. Es kann sein, dass Menschen zwar noch gewisse Dinge zu tun vermögen, aber die kognitiven Fähigkeiten fehlen. Deswegen sind wir weg von der Verrichtungsbezogenheit und hin zur individuellen Betreuung.
Was hat den Anlass dazu gegeben, dass man das verändert hat?
Die Erfahrung aus der Praxis. Und zunehmend gewinnt das Thema ja an Bedeutung. Wir hatten einfach den Eindruck, dass das Gesetz nicht an den Bedürfnissen derjenigen ausgerichtet ist, die an Demenz leiden oder demente Angehörige pflegen.
Hat das auch finanzielle Auswirkungen?
Ja. Es wird mehr bezahlt und es kommt insgesamt zu höheren Leistungen. Aber umgekehrt steigen dadurch natürlich auch die Pflegebeiträge – um rund 0,5 Prozent.
Wenn wir schon bei höheren Beiträgen sind: Da soll ja in den privaten Kassen einiges bevorstehen.
In diesem Jahr haben wir eben die außergewöhnliche Situation, dass einzelne private Krankenkassen die Beiträge deutlich erhöhen müssen. Das wird den Betroffenen Ende November/Anfang Dezember konkret mitgeteilt. Wir in der Politik sehen hier einen großen Handlungsbedarf.
Woran liegen diese Sprünge?
Unter anderem daran, dass private Kassen ihre Beiträge nicht jährlich anpassen können. Sondern immer nur, wenn sogenannte auslösende Momente vorliegen: Etwa wenn die Ausgaben der privaten Krankenversicherung um insgesamt zehn Prozent steigen oder sich die Sterbetafel gravierend verändert. Nur dann dürfen diese Kassen ihre Beiträge heraufsetzen. Sie müssen jetzt auch das Niedrigzinsniveau berücksichtigen und unter anderem deshalb ihre Beiträge erhöhen. Hinzu kommt bei den Leistungen, dass die Privatpatienten in der ambulanten Versorgung prozentual mehr zahlen müssen als gesetzlich Versicherte. Das hat jetzt zu diesen massiven Erhöhungen geführt.
Die privaten Krankenkassen haben jahrzehntelang mit der Behauptung geworben „Wir machen alles besser und billiger“.
Besser ja. Billiger nein.
Sei’s drum: Sie haben dadurch den gesetzlichen Kassen viele gut verdienende Mitglieder weggenommen. Hat es dann doch nicht alles gestimmt, was behauptet wurde?
Das Verhältnis gesetzliche versus private Krankenversicherung ist ein Thema, das meines Erachtens einer größeren Reform bedarf. Ich habe das schon öfter mal zum Ausdruck gebracht. Wir arbeiten mit Hilfskrücken wie Termin-Servicestellen und Ähnlichem. Auf beiden Seiten herrscht Unzufriedenheit. Wir müssten beide Systeme von Grund auf renovieren.
Woran denken Sie da?
Ein erster wesentlicher Schritt, um das zu verändern, wäre, dass man zu einer vereinheitlichten Gebührenordnung für beide Seiten käme. Das werden jetzt viele nicht gern hören. Aber es würde dazu führen, dass die Abrechnung der Leistungen der niedergelassenen Ärzte für beide Seiten eine ähnliche wäre. Außerdem wäre die Vergütung so transparenter
Wenn Sie von Reform oder Systemänderung reden: Die SPD hat da ja schon lange was auf der Pfanne – die Bürgerversicherung. Alle zahlen in eine Kasse und keiner kann sich drücken.
Ich sage ganz ehrlich: Ich bin kein Fan davon. Ich habe da die Sorge, dass wir dann relativ schnell dazu übergehen würden, einzelne Leistungen auszugliedern, für die dann der Einzelne privat vorsorgen müsste.
Also mit Zusatzversicherungen?
Genau. Die können sich dann wiederum auch nur die mit einem höheren Einkommen leisten. Deswegen glaube ich, dass wir mit diesem dualen System aus privaten und gesetzlichen Kassen bisher sehr gut gefahren sind. Weil beide den Anspruch haben, für ihre Versicherten die bestmögliche Leistung zu erbringen. Wenn wir zu einer Bürgerversicherung mit Zusatzleistungen kommen, würde sich aus meiner Sicht das Thema Zwei-Klassen-Medizin noch verschärfen.
In meiner Lebens-Praxis passiert es mir immer wieder, dass mir gesagt wird „Du bist ja ganz schön blöd, in der gesetzlichen Krankenkasse geblieben zu sein“. Das spricht jetzt nicht unbedingt für Ihre Theorie.
Wenn Sie aber sehen, wie sich Beitragssätze im Alter für privat Versicherte entwickeln, wenn Sie die Tarife für mitversicherte Familienangehörige dort anschauen, dann sehen Sie, dass es auf beiden Seiten Vor- und Nachteile gibt. Das ist eben das, was unser System ausmacht: Wir haben Wettbewerb.
Apropos Wettbewerb: Vor Kurzem gab es das Urteil des Europäischen Gerichtshofes zu den Internet-Apotheken. Wie ordnen Sie das ein?
Das ist schon historisch. Und beschäftigt uns in Berlin massiv. Da müssen wir auch schnell zu einer Lösung kommen. Das Urteil besagt ja im Kern, dass ausländische Versand-Apotheken bei Lieferungen Rabatte geben können, während in Deutschland eine Arzneimittel-Preisverordnung existiert, die das nicht zulässt. Wenn wir nicht gegensteuern, kann das in Zukunft dazu führen, dass chronisch Kranke oder Menschen mit hohem Medikamentenbedarf ihre Bestellung im Internet bei einer Versand-Apotheke aufgeben, Rabatte erhalten und beliefert werden.
Na und? Wo ist da das Problem? In der EU gilt doch das Prinzip des freien Warenverkehrs.
Ich und viele andere haben einfach die Sorge, dass insbesondere im ländlichen Raum am Ende die Existenz der Apotheken gefährdet sein könnte, wenn zu viele zu den Auslandsanbietern abwandern, und die Präsenz-Apotheke vor Ort nicht mehr überleben kann. Vor Kurzem habe ich daher vorgeschlagen, dass wir den Versand rezeptpflichtiger Arzneimittel verbieten sollten. Das ist europarechtlich zulässig, wie der Europäische Gerichtshof vor einigen Jahren entschieden hat. Schon jetzt machen 17 Länder in der EU Gebrauch davon.
Und wenn man Ihrem Vorschlag nicht folgt – was dann?
Wenn wir das einfach laufen lassen, dann sehe ich die Gefahr, dass Apotheken in höherem Maße unrentabel werden und schließen müssen. Was das für den Versorgungsalltag und den ländlichen Raum bedeutet, kann sich jeder ausmalen.
Aber die Leute, die bei diesen Versandapotheken einkaufen wollen und es auch tun, machen das ja, weil sie finden, dass die Medikamente in Deutschland zu teuer sind. Die Erfahrung kann man ja machen, wenn man im Ausland mal Pillen braucht. Die dann sehr viel billiger sind.
Im Apotheken-Abgabepreis ist das teilweise richtig. Aber es gibt da verschiedene Faktoren. Ein wesentlicher davon ist, dass wir in Deutschland 19 Prozent Umsatzsteuer zahlen – in vielen anderen Ländern nicht. Zum zweiten haben wir eine klare Vergütung der Apotheken, bei der die nicht einen prozentualen Aufschlag auf den Preis kriegen, sondern ein Fixum von 8,35 Euro. Aber was bei dieser Rechnung vollkommen unberücksichtigt bleibt: Die meisten Krankenkassen sorgen mit Rabattverträgen, von denen der Einzelne nichts mitbekommt, dafür, dass das Preisniveau deutlich nach unten geht.
Um wie viel denn?
Man spricht davon, dass in einzelnen Rabattverträgen die Arzneimittel für die Kassen im Endeffekt rund 90 Prozent günstiger sind, als es auf dem Preisschild in der Apotheke steht. Es ist also nicht ganz richtig, dass die Medikamente im europäischen Ausland immer günstiger sind. Wir erleben heute schon Tendenzen, dass Deutschland ein Exportland für Arzneimittel wird. Da spricht man dann von „Re-Export“, bei dem unter günstigen Bedingungen Arzneimittel ins Ausland verkauft werden. Zum Beispiel bei Impfstoffen. Die fehlen bei uns zum Teil schon, weil andere Märkte attraktiver sind.
Mir fällt auf: Wir landen in diesem Gespräch immer wieder beim Geld. Da dürfen natürlich die Beiträge der gesetzlichen Krankenkassen nicht fehlen.
Der Schätzerkreis hat festgestellt, dass deren Finanzlage im Moment sehr gut ist. Wir können also davon ausgehen, dass es 2017 dort in der Breite keine Erhöhung geben wird. Es wird sicher einzelne Kassen geben, die dennoch mehr verlangen müssen. Aber im Großen und Ganzen ist dieses System sehr stabil. Auch bei den Zusatzbeiträgen wird sich wohl nichts ändern.
Letztes Thema: Es kursiert ja das Gerücht, dass die Leute kränker gemacht werden, als sie eigentlich sind. Damit man mehr aus dem Gesundheitsfonds abgreifen kann. Ist das nur ein Gerücht?
Die Diskussion nimmt darüber im Augenblick massiv an Fahrt auf. Wir haben ja ein System nach dem Prinzip „Das Geld folgt der Krankheit“. Wir wollten verhindern, dass sich die Kassen nur um die Gesunden kümmern wollen. 2009 hatte man sich deshalb dafür entschieden, den Kassen das Geld nach dem Gesundheitszustand ihrer Versicherten zuzuweisen.
Und jetzt?
Müssen wir erkennen, dass das dazu führt, dass bei einzelnen Patienten sehr genau codiert wird, welches Krankheitsbild sie haben. Und da liegt einiges im Argen.
Was muss man sich darunter vorstellen? Wie läuft das ab?
Ein schönes Beispiel: Wenn jemand mit einer depressiven Verstimmung zum Arzt kommt, gibt es weniger Geld. Wenn man eine Depression diagnostiziert, gibt es 500 Euro im Jahr mehr. Wenn jemand mit Rückenbeschwerden zum Doktor geht und man daraus einen Bandscheibenvorfall macht, macht das einen Tausender aus. Da gibt es jetzt ein paar Unwuchten.
Also kommt bald wieder eine Reform.
Es ist nicht so, dass das ganze System in Frage gestellt werden müsste. Aber wir als Politik müssen korrigierend eingreifen, um die Anreize zum Missbrauch zu vermeiden. Die Versicherten wissen von diesen Dingen ja nichts. Aber es könnte ihnen schon später einmal Probleme bereiten, wenn sie ein Attest abgeben müssen und plötzlich steht drin, sie hätten Depressionen, obwohl sie nie welche hatten. Nur weil Arzt und Krankenkasse das so codiert haben, weil es dafür mehr Geld gibt.