Nürtinger Zeitung

Liegt Europa am Boden?

Liegt Europa am Boden?

02.07.2016, VON JÜRGEN GERRMANN —

Nürtinger Abgeordnete zum Brexit und der Zukunft der EU

Katzenjammer – so könnte man die Stimmung nach der Volksabstimmung in Großbritannien über den Austritt aus der EU wohl beschreiben. Doch merkwürdig: Anscheinend brummt den „Siegern“ der Kopf mehr als den „Verlierern“. Wir haben uns bei den für Nürtingen zuständigen Abgeordneten in Bund und Land umgehört.

Wenn man mit dem Nürtinger CDU-Bundestagsabgeordneten Michael Hennrich redet, dann hat die Krise vor allem ein Gesicht: Jean-Claude Juncker, der Präsident der EU-Kommission, der von der christdemokratischen Kanzlerin Angela Merkel zunächst widerwillig zum Spitzenkandidaten der EVP bei der Europawahl mit gekürt wurde und den sie dann am Tag nach der Wahl vergeblich versuchte zu verhindern.

Wie dem auch sei. Den Kirchheimer wurmt es, dass der Luxemburger vorhabe, die Abstimmung über das Freihandelsabkommen mit Kanada (CETA) an den nationalen Parlamenten vorbei durchzuboxen: „Da darf man sich doch nicht wundern, dass der Ruf der EU-Institutionen ramponiert ist.“

Er selbst hat übrigens nicht mit dem Ergebnis des Referendums gerechnet: „Am Abend zuvor habe ich mit einem Freunde noch eine Wette um einen Schweinsbraten abgeschlossen – und verloren.“ Jetzt rät er zu einem besonnenen Vorgehen: „Die Briten müssen sich erst mal ordnen und sortieren und dann formal ihren Austritt erklären.“ Ein „Briten-Bashing“ findet er „fehl am Platz“. Schließlich gebe es nicht nur auf der Insel Unzufriedenheit mit der EU.

Freilich: Auch deutsche Politiker in Bund und Land hätten es sich in den vergangenen Jahren zu einfach gemacht. Warum? „Wenn was schiefgelaufen ist, haben immer alle in Richtung EU gezeigt. Das war das einfachste Strickmuster.“ Damit müsse jetzt Schluss sein. Und auch die Wirtschaftsverbände müssten sich an die Nase fassen. „Immer nur die EU zu kritisieren, aber keine Lösung anzubieten – das hilft nicht weiter.“

Seinen Berliner Kollegen Rainer Arnold von der SPD hat dieses Ergebnis zwar nicht überrascht, aber er ist dennoch schockiert über die fremdenfeindliche Kampagne, die in den vergangenen zwei Wochen in England Platz gegriffen habe – gerade gegen EU-Ausländer. Deswegen fordert er nun eine schnelle Lösung: „Es darf nicht sein, dass Premier David Cameron oder seine Nachfolger auf Zeit spielen.“ Eine Lösung müsse zwar nicht im Schweinsgalopp her: „Aber wir brauchen Klarheit. Nicht nur für die Wirtschaft. Sondern auch für die Menschen, die in den EU-Institutionen in Großbritannien arbeiten.“

Er könne zwar die Menschen verstehen, die aufatmen, dass mit dem Vereinigten Königreich der größte Nörgler aus der EU gehen wolle. Trotzdem: Gerade in der Sicherheits- und Verteidigungspolitik sei Großbritannien ein wichtiger Partner: „Die EU-Mission am Horn von Afrika wird zum Beispiel von den Briten geführt.“

Die von Kanzlerin Merkel genannten vier Säulen der EU (Freizügigkeit für Personen, Waren, Dienstleistungen und Handel) seien sicher wichtig. Aber man müsse „ernsthaft darüber nachdenken“, noch eine fünfte hinzuzufügen: das Soziale. Man könne schließlich nicht zuschauen, dass in manchen Regionen der EU die Jugendarbeitslosigkeit über 50 Prozent liege.

Matthias Gastel, der die Nürtinger Grünen im Berliner Parlament vertritt, bedauert es sehr, dass durch dieses Referendum Großbritannien quasi gespalten worden sei: in Jung und Alt, in mehr oder weniger Gebildete, in Regionen, die für oder gegen Europa votiert hätten. Als Grüner findet er den Brexit auch als Rückschlag für die Klimapolitik: „Die großen Probleme können wir nicht im Kleinen lösen. Wir brauchen eine EU, in der gemeinsam und entschlossen gehandelt wird. Manche sehnen sich nach kleinen, überschaubaren, kuscheligen Lösungen in ihren Nationalstaaten. Aber die gibt es nicht mehr. So was funktioniert nicht.“

Wechseln wir mal den Blickwinkel. Richtung Brüssel. „Wir können uns keine Hängepartie leisten“, sagt da die Sozialdemokratin Evelyne Gebhardt: „Wir brauchen Rechtssicherheit. Für die Bürger. Für die Unternehmen. Und für die Zukunft der EU. Wir können uns keine Hängepartie leisten.“

Könnte der Brexit auch Auswirkungen auf das zwischen der EU und den USA geplante Freihandelsabkommen (TTIP) haben? Gebhardt schließt das nicht aus: Es nahe das Verhandlungsende – „und wenn es bis dahin keine Fortschritte gibt, ist die Sache tot“.

Sicher sei das Referendum in Großbritannien ein Schock gewesen. Aber dennoch komme „EU light“ für die Briten nicht in Frage: „Die haben immer wieder Sonderkonditionen bekommen. Damit muss endlich Schluss sein.“ Dieser Schock könne vielleicht auch dazu beitragen, dass jetzt nun die Zukunft angegangen werde – und man mit den Bürgern darüber diskutiere, wie es weitergehe. Im Nürtingen gibt es übrigens schon bald eine Gelegenheit dazu – Ortsvereinsvorsitzende Bärbel Kehl-Maurer hat ihre Genossin zum SPD-Sommerfest an den Neckar eingeladen. Und sie kommt auch: Am Samstag, 10. September, um 11 Uhr geht es los.

Und was was meinen die Grünen? Maria Heubuch sagt uns dazu dies: „Es war kein Ergebnis, das ich mir gewünscht hätte. Ich habe mir erhofft, dass der Zusammenhalt in Europa gestärkt worden wäre. Aber ich muss das respektieren. Es war schließlich ein Volksentscheid. Eine rachsüchtige EU wäre jetzt zwar verständlich. Aber nicht richtig – genauso wenig, wie wenn die Briten jetzt auf Zeit spielen würden. Wir sollten die Trennung jetzt zügig aushandeln – aber fair und ohne Groll im Bauch.“

Von Grün zu Gelb: Michael Theurer von der FDP ist zwar „traurig“. Aber: „Die EU wird durch den Austritt eines Landes, zumal, wenn es so groß und wirtschaftlich stark ist wie Großbritannien, sicher geschwächt – aber nicht in ihrer Existenz bedroht.“

Das größte Risiko sei im Moment eine andauernde Hängepartie. „Nichts ist wirtschaftlich und politisch so gefährlich wie eine lange Phase der Ungewissheit.“ Er richte einen Appell in zwei Richtungen;. Die Briten sollten schnell darüber Klarheit schaffen, wie sie sich ihre Zukunft vorstellten – und die restlichen 27 Staaten und deren Parlamente müssten „Maßnahmen festlegen, die zur Stabilisierung der EU beitragen“.

Da ist natürlich auch die Meinung von jemand wichtig, der im Europaparlament ganz oben sitzt: Rainer Wieland (CDU) ist einer der Stellvertreter von Parlamentspräsident Martin Schulz (SPD). Der Gerlinger sagt zu unserer Zeitung: „Ich bin EU-sozialisiert.“ Mit 15 sei er im Schüleraustausch nach Hemel Hampstead gefahren: „Und ich habe mich riesig gefreut, dass die Briten kurz später der EU beigetreten sind.“

Jetzt freilich geht es wieder andersrum. Und mit ziemlichen Konsequenzen. Wieland sagt, das sei „eben nicht so, wie wenn eine Yoga-Abteilung aus einem Sportverein will“.

Wie soll es denn nun weitergehen? „Wenn bei uns in Brüssel der Briefkasten nicht klappert, dann passiert gar nichts“, sagt er. Und fügt hinzu: „Wenn er klappert, dann läuft ein Zeitplan ab. Und wenn nix anderes vereinbart ist, dann ist Großbritannien ein ganz normaler Drittstaat wie Simbabwe oder Serbien auch.“ Die Engländer träumten ja jetzt vom norwegischen Modell: Die Skandinavier nähmen ja auch am Binnenmarkt teil, obwohl sie nicht in der EU seien. Freilich: Die zahlten auch dafür. 400 Millionen Euro pro Jahr. Und das sei pro Kopf mehr, als die Briten im Moment zahlten. Als Mitglied der EU. Zudem sage er ganz klar: „Ohne Freizügigkeit der Arbeitnehmer kann es keinen Zugang zum Binnenmarkt geben.“

Die Botschaft des Referendums laute auch so: Die etablierten Parteien (zu denen nicht zuletzt die CDU gehört) könnten die Populisten, die das Feuer gegen Europa schürten, nicht übertreffen. Vielleicht gehe das Votum in Großbritannien als der Tag in die Geschichte ein, an dem das europäische Pendel nicht mehr nach rechts ausschlage. Sondern hin zu einer gesunden Mitte.